Gegen Stühle und Schubladen
Mit den Essays aus „Betrachtungen einer Barbarin“ verhandelt Asal Dardan gesellschaftlich wichtige Themen – und schaut dabei besonders auf Uneindeutigkeiten.
Bis vor einiger Zeit hat Asal Dardan mit ihrer Familie auf einer schwedischen Insel gewohnt, im Elternhaus ihres Mannes. Sie sind dort hingezogen, weil die Mieten in Berlin und Lund zu teuer geworden sind. Doch haben sie so auch die Schwiegermutter Dardans vertrieben, die dort aufgewachsen ist. Von deren Großmutter wiederum hängt ein Bild an der Wand, auf dem sie noch unverheiratet zu sehen ist – bevor sie Mutter geworden ist und auf der Insel ihr Leben beschlossen hat. Nichts daran ist bemerkenswert oder auch nur besonders interessant, könnte man meinen. Doch Dardan belehrt uns eines besseren, denn schon in diesem einen Bild schwingen für sie die großen Themen mit: Kapitalismus, Europa, Feminismus, Familie, Geschichte.
Es ist eine Binsenweisheit, dass die spezifischsten Geschichten oft auch die universellsten sind. Nie war das so deutlich wie bei der Lektüre von Asal Dardans „Betrachtungen einer Barbarin“. Obwohl das Buch wie eine Autobiografie beginnt, sind die einzelnen Kapitel vielmehr Essays über gesamtgesellschaftliche Themen. Doch in keiner Sekunde lesen sich diese Texte trocken oder belehrend. Vielmehr beginnt Dardan immer im Privaten: Sie erzählt in klaren, glatten Sätzen von ihrer Kindheit als Tochter iranischer Eltern, die nach Deutschland geflohen sind, von ihrer Jugend im Internat, ihrem Volontariat in den USA, ihrem Alltag in Berlin, Italien und Schweden. Aber jedes Mal von neuem kann sie zeigen, inwiefern diese individuellen Erlebnisse und Umstände ein Spiegel des großen Ganzen sind. Ein Straßenschild stößt eine Recherche über von den Nazis ermordete Widerständlerinnen an, das Bild der schwedischen Ururgroßmutter eine Reflexion über die Erwartungen, die seit Generationen auf Frauen lasten.
Dabei denkt Dardan mit einer Differenziertheit, die immer wieder überraschende Impulse zutage fördert und die Leser*innen zu einer aktiven Auseinandersetzung herausfordert. Denn Uneindeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten, so eine Moral des Buchs, gehören zu jedem Menschen und jeder Gesellschaft unbedingt dazu. Es ist gefährlich, sie übersehen zu wollen – wenn das auch durchaus wohlwollend gemeint sein kann. Die Autorin ist Tochter von iranischen Migrant*innen, doch als wohlhabende Nichtmuslim*innen passen sie nicht zum gängigen Vorurteil, und Dardan selbst spricht nur noch wenig Farsi. Bis heute wird sie in Deutschland mit Rassismus konfrontiert, hat aber auch keine wirkliche Beziehung zum Land ihrer Eltern. Die Welt, weiß sie, ist längst viel komplexer, als die meisten Begriffe ausdrücken können. Mit Leuten, die sich offen zwischen Stühle setzen und willentlich Schubladen sprengen, kann unsere Gesellschaft oft noch immer wenig anfangen. „Betrachtungen einer Barbarin“ zeigt, dass wir vor allem eins tun sollten: zuhören.
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