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Zwiedentität

Buchcover „Die verschwindende Hälfte“ von Brit Bennett

Mit ihrer zersplitterten Familiengeschichte „Die verschwindende Hälfte“ erzählt Brit Bennett so eindringlich vom Rassismus wie schon lange kein Roman mehr.

Es gibt da ein psychologisches Experiment namens „Doll Test“: Kleinkinder mit unterschiedlicher Hautfarbe bekommen Adjektive genannt und sollen sie Puppen mit unterschiedlicher Hautfarbe zuordnen. Schon die Allerkleinsten weisen Adjektive wie „schlecht“, „hässlich“, „dumm“ der schwarzen Puppe zu – egal, welche Hautfarbe sie selbst haben. Was das mit Brit Bennetts zweitem Roman „Die verschwindende Hälfte“ zu tun hat? Nun, was der „Doll Test“ illustriert, zeigt auch die US-Amerikanerin auf – komplexer, aber auf nicht weniger schmerzhafte Weise.

Ausgangspunkt für ihre Geschichte der Zwillingsschwestern Stella und Desiree ist der winzige Ort Mallard in Louisiana, dessen schwarze Bewohnerschaft ein großes Ziel verfolgt: mit jeder Generation immer hellhäutiger zu werden. Je weißer, desto besser – so lernen es Stella und Desiree von Kindesbeinen an. Die Zwillinge wagen als Teenager in den 1950er-Jahren die Flucht aus dieser beklemmenden, vom Hochmut der „besseren Schwarzen“ geprägten Gemeinschaft und gehen gemeinsam nach New Orleans. Dort aber trennen sich ihre Wege. Stella bemerkt, dass sie dank der Bemühungen Mallards problemlos als Weiße durchgeht, wenn sie zu ihrer Herkunft schweigt. Sie entscheidet sich für das sogenannte Passing: Sie kappt alle Verbindungen, heiratet ihren weißen Vorgesetzten und bekommt eine blonde Tochter mit Augen „so blau, dass sie lila aussahen“. Desiree hingegen knabbert Jahre am Verschwinden der Schwester, tut sich dann mit dem dunkelhäutigsten Mann zusammen, den sie finden kann, und bekommt ebenfalls eine Tochter: Jude, deren Haut nicht nur „raben-“, sondern „blauschwarz“ ist – „wie frisch aus Afrika eingeflogen“. 1968, im Jahr von Martin Luther Kings Ermordung, kehrt Desiree mit diesem tiefschwarzen Kind ins fast gar nicht mehr schwarze, aber ganz und gar nicht weiße Mallard zurück, immer noch getragen von der Hoffnung, ihre verschwundene Zwillingsschwester wiederzufinden.

Über mehrere Jahrzehnte hinweg begleitet Brit Bennett ihre Protagonistinnen und deren Töchter, die sich – Spoileralarm! – auch begegnen werden. Das Abspalten wichtiger Biografie- und Lebensbereiche, das Passing in verschiedenen Formen, ist und bleibt dabei das große Thema der vier Frauen und auch ihrer Partner*innen. Als weiße*r Leser*in ist man geneigt, dem Dilemma Stellas zunächst mit Unverständnis zu begegnen: Warum wäre es so schlimm, wenn ihre Familie, Freund*innen, Nachbar*innen die wahre Herkunft, ihr „Schwarzsein“, erkennen würden? Sie wäre doch immer noch dieselbe Stella … Oder nicht? Diese Komplexität aufzuzeigen, die Mär vom Rassismus als Trennlinie zwischen „den“ Schwarzen und „den“ Weißen aufzubrechen – das ist Bennetts großer Verdienst. Darüber hinaus ist es ganz und gar beglückend, wie liebevoll, unaufgeregt und frei von Voyeurismus die 30-jährige Autorin ihre Figuren zeichnet und ihnen dadurch – bei all ihrer Vielschichtigkeit und den individuellen Schicksalen – eine große Normalität verleiht. Zwar spielt „Die verschwindende Hälfte“ vornehmlich in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, vor dem Hintergrund einer noch konservativeren Gesellschaft als der heutigen. Dennoch ist der Roman von großer Aktualität – zeigt er doch emotionale Bedürfnisse, Unsicherheiten, Krisen auf, die unabhängig von Zeit und letztlich auch Raum sind.

Mit „Die verschwindende Hälfte“ hat es Brit Bennett auf unsere Liste der besten Bücher im Dezember 2020 geschafft.

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