Die besten Bücher 2022: Empfehlungen für den Dezember
So können die Feiertage kommen: Die besten Bücher im Dezember 2022 mit Mohamed Mbougar Sarr, Lieke Marsman und Juri Andruchowytsch.
Wer führt unsere Liste der besten Bücher im Dezember 2022 an? Den Prix Goncourt 2021 hat Mohamed Mbougar Sarr bereits gewonnen. Schafft er es mit seinem Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ nun auch noch auf die Spitzenposition unserer Liste der besten Bücher im Dezember 2022. Konkurrenz könnte er von Jochen Schmidt bekommen. Mit „Phlox“ hat der Meister der süchtig machenden Nebensätze dem Ort Schmogrow im Oderbruch ein literarisches Denkmal gesetzt.
Grandios ist auch der Roman „Nach Norden“ von Anuk Arudpragasam, der den Bürgerkrieg in Sri Lanka verhandelt, zugleich aber stets im Speziellen das Universelle sucht: Erkenntnisse über Tod und Trauma, über die Liebe und das Altern. Und wie weit nach vorn auf unserer Liste der besten Bücher im Dezember 2022 schafft es Lieke Marsman mit ihrem Roman „Das Gegenteil eines Menschen“? Deren Protagonistin Ida sieht die lahme Unfähigkeit der Menschheit, dem Klimawandel zu begegnen, als eine großformatige Spiegelung ihrer eigenen, weiterverbreiteten Schwächen – darunter der Angst davor, sich komplett auf die Liebe einzulassen.
Friedrich Dönhoff kann Biografien. Für „Marius Müller-Westernhagen. Ein Portrait“ trifft er den mittlerweile 73-jährigen Musiker – und kennt gerade mal die bekanntesten Songs wie „Dicke“, „Freiheit“ und „Wieder hier“. Wird Dönhoffs große Leistung. das Leben von MMW in ein Buch zu verwandeln, das nicht nur für Fans spannend ist, mit einem der vorderen Plätze auf unserer Liste der besten Bücher im Dezember 2022 prämiert? Und schließlich sind da auch noch neue Bücher von Jan Böttcher und Juri Andruchowytsch, denen immer eine Überraschung zuzutrauen ist.
Die besten Bücher im Dezember 2022
7. Jan Böttcher: Das Rosen-Experiment
Berlin, 1928: Um den Psychologie-Professor Zadek hat sich ein ehrgeiziges Kolloquium geformt. Vor allem die Doktorandin Zenia hat große Pläne: Mit ihren Experimenten will sie die Beziehung zwischen Fühlen und Handeln erforschen und zieht sogar die Kellnerin Helene in die akademische Welt hinein. Doch im Hintergrund braut sich bereits der Hass zusammen, der bald das ganze Land in die Barbarei stürzen und jüdische Denker:innen wie Zadek oder Zenia zum Fliehen zwingen wird – der eine geht nach Westen, die andere nach Osten.
Musiker und Autor Jan Böttcher hat zwar die Namen seiner historischen Figuren geändert, ist aber insbesondere in Bezug auf ihre Arbeit nah an der Realität geblieben. Sein Roman wirft ein Schlaglicht auf eine Zeit, die bis heute von der darauffolgenden Krise verdeckt wird; eine Zeit, in der Berliner Psycholog:innen viele Erkenntnisse der späteren Jahrzehnte vorwegnahmen. Doch bei aller Realitätstreue ist „Das Rosen-Experiment“ alles andere als trocken, sondern liefert mit Zenia, Zadek und Helene dreidimensionale, komplexe Figuren, deren Schicksale uns bewegen. Zugleich malt Böttcher mit zeitgerechter Sprache ein Panorama der Weimarer Republik kurz vor ihrem Ruin. Wäre das Buch eine Doktorarbeit, könnte der Schlusssatz des Gutachtens etwa so lauten: ausgefallenes Thema, souverän gemeistert.
Aufbau, 2022, 368 S., 23 Euro
6. Friedrich Dönhoff: Marius Müller-Wersternhagen. Ein Portrait
Brav runtererzählte und mit Fantum gespickte Lebensläufe von Musiker:innen sind selbst für Fans oft wenig spannend, und wie unangenehm Autobiografien rüberkommen können, hat gerade erst Bono mit seinem selbstgefälligen Buch bewiesen. Marius Müller-Westernhagen ist sich dieser Gefahren wohl bewusst gewesen. „Ich würde ihm völlig unvoreingenommen begegnen, bei null anfangen und sehen, wohin es uns trägt. Genau das hat Westernhagen gefallen. Ihn interessierte keine klassische Biografie, sondern ein Projekt, bei dem wir über Themen der heutigen Zeit sprechen, die ihn bewegen, und nebenbei auch über sein Leben“, schreibt Friedrich Dönhoff über das Konzept von „Marius Müller-Westernhagen. Ein Portrait.“
Hier trifft ein etablierter Autor und Biograf auf den mittlerweile 73-jährigen Musiker – und kennt gerade mal die bekanntesten Songs wie „Dicke“, „Freiheit“ oder „Wieder hier“. Dönhoff protokolliert ihre Begegnungen, er besucht MMW in dessen Berliner Wohnung, oder sie streifen gemeinsam durch die Straßen von Charlottenburg. Dazwischen gibt es Interviewpassagen und den Blick zurück auf das Leben des Musikers, wobei er dankenswerterweise den Schwerpunkt auf Kindheit und Jugend, Westernhagens Schauspielkarriere sowie die musikalischen Anfänge in den 80ern legt und die spätere Zeit der Stadionkonzerte nur am Rand erwähnt. Spektakuläre Enthüllungen fehlen, doch sie würden auch nur die Sicht verstellen: Wie sich die beiden hier nach und nach anfreunden und immer ungezwungener miteinander plaudern, entsteht ein vielschichtiges und doch so tiefenscharfes Psychogramm.
Diogenes, 2022, 256 S., 25 Euro
5. Jochen Schmidt: Phlox
Ganze sieben Mal taucht das Wort „Phlox“ in Jochen Schmidts Roman auf, zwei Mal in Form des Zitats „Ein Leben ohne Phlox ist ein Irrtum“ des Gartengestalters und -philosophen Karl Foerster, der mit seinem Karl-Foerster-Garten bei Potsdam unter Gärtnern berühmt geworden ist und dessen Schüler als Foersterianer bezeichnet werden. Das Ehepaar Tatzien gehört zu den Foersterianern und ist das Zentrum der Romanhandlung im Ort Schmogrow im Oderbruch an der polnischen Grenze. Dort, auf ihrem Hof und im großen Garten dahinter, kommt zu DDR-Zeiten die Natur als Erlebnisfaktor im besten Sinne zum Zug. Kein Wunder also, dass ihr Feriendomizil für viele Familien aus Ost und West vor der Wende ein beliebtes Ziel für die Sommerfrische gewesen ist.
So auch für Richard Sparka. der bereits als Kind mit seinen Eltern jedes Jahr in Schmogrow die Sommerferien verbracht hat. Jetzt kommt er nach dem Tod der Tatziens noch ein letztes Mal in den Oderbruch, ehe der Hof in eine Getränkeauffüllstation für Biker verwandelt wird und die Idylle für immer verschwindet.
Jochen Schmidt – der Meister der süchtig machenden Nebensätze – lässt seinen Helden in viele, sehr viele Kindheitserinnerungen eintauchen. Ganze Kapitel sind in der Gegenwart lediglich einer einzigen Geschirrspülaktion oder dem Liegen auf dem Sofa gewidmet, während die Gedanken anhand von Gerüchen, Geräuschen oder der in den Blick genommenen Gegenstände – Geschirr, Mobiliar, Bücher – in die Vergangenheit wandern. Der Enthusiasmus des Kindes für diese Ferien wird dabei ebenso deutlich vermittelt, wie der erwachsene Richard Sparka den Geist des Reaktionären in der Naturverbundenheit ganzer Generationen aufdeckt. Schmidt verrät die Idylle nicht, ordnet sie aber ohne Larmoyanz politisch ein.
C.H. Beck, 2022, 480 S., 25 Euro
4. Lieke Marsman: Das Gegenteil eines Menschen
Ida ist 29, hat Geowissenschaften studiert und vor kurzem eine Beziehung mit Robin begonnen, mit der sie sich den Rest ihres Lebens vorstellen kann. Trotzdem ist sie haltlos, unzufrieden, angstvoll. Spontan bewirbt sie sich auf ein Praktikum in Norditalien, wo bei einem alpinen Staudamm der Klimawandel erforscht wird. Doch wird ihre Liebe zu Robin das überleben? Lieke Marsmans Romandebüt „Das Gegenteil eines Menschen“ wurde in den Niederlanden bejubelt, und das zu Recht: Auf engem Raum zeichnet die Autorin ein detailliertes, lebendiges Bild ihrer Protagonistin, deren Erinnerungen und Assoziationen weit schwerer wiegen als das, was in ihrem Alltag passiert. Ida sieht die lahme Unfähigkeit der Menschheit, dem Klimawandel zu begegnen, als eine großformatige Spiegelung ihrer eigenen, weitverbreiteten Schwächen – darunter der Angst davor, sich komplett auf die Liebe einzulassen. Zugleich ist die existenzielle Bedrohung für sie eine Ausflucht aus dem Persönlichen. Marsman präsentiert Idas Hadern mit der Zukunft, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Einsamkeit dabei mit so viel lakonischem Humor und sprachlicher Experimentierfreude, dass die Düsternis nie überhandnimmt. So lustig kann Weisheit sein.
Klett-Cotta, 2022, 192 S., 22 Euro
Aus d. Niederl. v. Christiane Burkhardt u. Stefanie Ochel
Die besten Bücher im Dezember 2022
TOP 3
3. Anuk Arudpragasam: Nach Norden
Der Bürgerkrieg in Sri Lanka ist erst 2009 zu Ende gegangen und hat bis zu 100 000 Opfer gefordert. Am Ende haben die Regierungstruppen den bewaffneten Aufstand der tamilischen Separatist:innen niedergeschlagen. Mal ehrlich: Wer hätte es gewusst? Die Lektüre von Anuk Arudpragasams Roman lohnt sich allein als Einblick in einen Konflikt, der hierzulande wenig thematisiert wird. Doch „Nach Norden“ ist noch viel mehr, und der Krieg auch im Roman bereits vorbei.
Für Krishan ist er trotzdem noch omnipräsent: In der Hauptstadt Colombo blieb er von der Gewalt weitgehend verschont, doch als Tamile fühlt er sich betroffen – und schuldig, weil er „nur“ seinen Vater verloren hat. Jahrelang hat Rani, deren Söhne im Krieg gestorben sind, Krishans kranke Großmutter gepflegt. Nun ist Rani tot, und Krishan reist nach Norden, ins ehemalige Kriegsgebiet, um an der Bestattung teilzunehmen. Die Zugfahrt weckt Erinnerungen, nicht nur an Rani und an seine Großmutter, sondern auch an Anjum, mit der er als Student in Delhi zusammen war und die ihn verlassen hat.
Der Großteil des Buchs spielt sich in Krishans Kopf ab, direkte Rede fehlt fast vollständig, die Reihenfolge der Geschehnisse ist assoziativ. Dafür stürzt sich Arudpragasam mit an Obsession grenzender Detailbesessenheit ins Gedächtnis, in die Gedanken und Gefühle seines Protagonisten. Aus dem extrem Spezifischen wird so wieder das Universelle: Krishans hart erkämpfte Erkenntnisse über Tod und Trauma, über Liebe und Altern sind allgemeingültig. „Nach Norden“ ist hochaktuell und explizit politisch, jedoch ohne je das Menschliche aus den Augen zu verlieren. Ob Arudpragasam über den Stolz einer alten Dame philosophiert oder eine tamilische Bestattungszeremonie genauestens beschreibt – jeder seiner Sätze ist gleichermaßen fesselnd. Das schaffen nur die ganz großen Erzähler.
Hanser Berlin, 2022, 320 S., 25 Euro
Aus d. Engl. v. Hannes Meyer
2. Juri Andruchowytsch: Radio Nacht
Dass ein Leben in der Nacherzählung zu einem sonderlichen Märchen werden kann, muss auch der erzählende Biograf in Juri Andruchowytschs neustem Roman feststellen. „Radio Nacht“ ist ein wundersames Sammelsurium aus Josip Rotskys Leben – ehemaliger Porno- und Rockstar, Meisterpianist, Revoluzzer, Attentäter und Radio-DJ. Fröhlich wechseln die Erzähltechniken, und so folgen wir mal dem Biografen auf seinen Recherchen, stolpern mitten im Roman über ein Theaterskript, lauschen gebannt Rotskys nächtlicher Radioshow und begleiten ihn im revolutionären Aufstand, ins Gefängnis, ins Exil und in eine verhängnisvolle Beziehung. Lady Gaga und Greta Thunberg tauchen neben Mephisto und Robert Walser auf, und die Referenzen überschlagen sich zwischen Edgar Allan Poe, David Bowie, Trotzki, Brodsky und Joseph Roth. „Radio Nacht“ ist ein schelmisch poetischer Roman über Flucht, ein allgegenwärtiges Grundrauschen der Gefahr in Osteuropa und zugleich auch eine Ode an die Popkultur und die große Zeit des Radios. Ein QR-Code gibt den Leser:innen die Möglichkeit, den nächtlichen Soundtrack Rotskys nachzuhören, und obwohl Orte wie Charaktere frei erfunden sind, ist der Ukrainekrieg fühlbar. Umso bemerkenswerter, dass Andruchowytschs Originalausgabe bereits 2021 erschienen ist.
Suhrkamp, 2022, 472 S., 26 Euro
Aus d. Ukraine. v. Sabine Stöhr
1. Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen
Mit 31 ist Mohamed Mbougar Sarr nicht nur einer der jüngsten Gewinner:innen des wichtigsten französischen Literaturpreises, sondern zum allerersten Mal ging der Prix Goncourt 2021 an eine:n Autor:in aus Subsahara-Afrika. In „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ verhandelt er die Liebe zur Literatur, das Bedürfnis zum Schreiben – und die Rezeption afrikanischer Schriftsteller:innen im westlichen Raum: Dem jungen Senegalesen Diégane Latyr Faye fällt das verschollen geglaubte Kultbuch „Das Labyrinth der Unmenschlichkeit“ eines gewissen T.C. Elimane aus dem Jahr 1938 in die Hände. Fasziniert von diesem Meisterwerk macht sich Diégane auf die Suche nach seinem Landsmann und Schriftstellerkollegen, der zunächst als „schwarzer Rimbaud“ gefeiert wurde, nach Plagiatsvorwürfen und rassistischen Anfeindungen aber untergetaucht ist … Mbougar Sarr erzählt auf verschiedenen Stilebenen, er baut Briefe, Zeitungsartikel, Tagebücher und Augenzeug:innenberichte ein und verdichtet seine Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus zu einem unsagbar spannenden Krimiplot.
Hanser, 2022, 448 S., 27 Euro
Aus d. Franz. v. Holger Fock u. Sabine Müller