Die besten Bücher 2022: Empfehlungen für den November
Wenn es auf der Lesecouch immer gemütlicher wird … Die besten Bücher im November 2022 mit Kim de l’Horizon, Leïla Slimani und Sayaka Murata
Natürlich hat Kim de l’Horizon den Deutschen Buchpreis 2022 gewonnen. Aber steht „Blutbuch“ auch auf der Spitzenposition unserer Liste der besten Bücher im November 2022? Auch die Chancen von Leïla Slimani stehen nicht schlecht, denn nach „Das Land der Anderen“ veröffentlicht die französische Bestsellerautorin mit „Schaut, wie wir tanzen“ den zweiten Teil ihrer Trilogie. Und Werner Herzog ist eh immer für eine Überraschung gut: Führt der Regisseur mit seiner zum 80. Geburtstag veröffentlichten Autobiografie womöglich gar unsere Liste der besten Bücher im November 2022 an?
Nach den Erfolgen von „Die Ladenhüterin“ und „Das Seidenraupenzimmer“ zählt auch Sayaka Murata zu den Favorit:innen. In „Zeremonie des Lebens“ erschafft sie zwölf Parallelwelten, um unsere Sexualität und das soziale Miteinander zu durchleuchten. Auch Mohsin Hamid ist ein gutes Abschneiden auf unserer Liste der besten Bücher im November 2022 gewiss. In „Der letzte weiße Mann“ zeichnet er ein zynisches Schreckensszenario, mengt aber auch Einfühlungsvermögen und sogar Optimismus bei. Und schließlich ist da noch Maria Muhar, die mit „Lento Violento“ die Depolitisierung und mentale Versehrtheit der urbanen Millennials einfängt.
Die besten Bücher im November 2022
6. Maria Muhar: Vento Violento
Koksen, Saufen, Rauchen – im Kampf gegen den Abfuck und das Unglück einer ganzen Generation: Maria Muhars Debütroman „Lento Violento“ ist ein wirres Porträt einer Wiener Dreier-WG, das anhand von Küchendiskussionen, Literaturverweisen und fiktiven Therapiesitzungen die Depolitisierung und mentale Versehrtheit der urbanen Millennials einfängt. Daniel, von Panikattacken geplagt, ist einzig noch ein Schatten seiner selbst, Ruth irrt desillusioniert und zynisch durch das, was man Alltag nennen könnte, und Alex versucht verzweifelt, ein Buch über ihre große Jugendleidenschaft Eurodance zu schreiben. Die Recherchearbeit wird zu einem konfusen Exzess – und allmählich scheinen sowohl Alex als auch die Leser:innen den Verstand zu verlieren. „Lento Violento“ ist im besten Sinne eine (Post-)Moderne Erzählung: wenig Plot, fragmentarisch zusammengesetzt und voll von scheinbar willkürlichen Wiederholungen. Schließlich findet Muhar jedoch zurück in die politische Realität Österreichs – dank der Vengaboys.
Kremayr & Scheriau, 2022, 199 S., 22 Euro
5. Werner Herzog: Jeder für sich und Gott gegen alle
Werner Herzog ist 80 – und die ganze Filmindustrie feiert mit. Zu den Geschenken gehört auch eines, das der Regisseur der Öffentlichkeit macht: seine lang erwartete Autobiografie. „Jeder für sich und Gott gegen alle“ übernimmt den Titel eines Herzog-Films von 1974 über Kaspar Hauser, hat mit diesem aber nicht viel zu tun. Stattdessen lassen seine Erinnerungen darüber staunen, dass Herzog dieses hohe Alter überhaupt erreicht hat. In fast jedem Kapitel berichtet er manchmal trocken, manchmal pathetisch von einer weiteren Situation, die er nur knapp überlebt hat – ob es nun um einen Filmdreh im Dschungel oder auf einer Bergspitze geht, bei der er den Naturgewalten ausgeliefert ist, oder ob er sich beim Skifahren fast den Hals bricht. Viele Anekdoten, von dem Kleinkrieg mit Klaus Kinski bis zur Rettung des verunglückten Joaquin Phoenix, sind Fans hinlänglich bekannt. Die wahre Faszination des Buchs steckt insofern in der Chance, endlich einen unverstellten Blick auf einen Künstler zu erlangen, der für viele längst mehr Meme als Mann ist. Das Rätsel Werner Herzog kann zwar auch Werner Herzog selbst nicht endgültig lösen, und nicht immer vermeidet er die Selbstmythisierung. Trotzdem: Sollten auch nur zehn Prozent seiner Erinnerungen wahr sein, hat Herzog noch immer eines der interessantesten Leben des 20. Jahrhunderts gelebt. Am Schluss bleibt das Bild eines Menschen, der schlicht keine Grenze zieht zwischen Traum und Wirklichkeit – und genau deshalb alle seine Träume lebt.
Hanser, 2022, 352 S., 28 Euro
4. Leïla Slimani: Schaut, wie wir tanzen
Als vor einem Jahr Leïla Slimanis „Das Land der Anderen“ in Frankreich zum Bestseller wurde, hielt sich die Begeisterung des Rezensenten in Grenzen – was auch mit dem seltsam abruptem Ende des Romans zusammenhing. Nun ist klar, warum: Slimani hat damals eine Trilogie begonnen, deren zweiter Band jetzt erschienen ist. Mit „Schaut, wie wir tanzen“ erzählt die Autorin ihre Familiensaga weiter. Es gibt ein Wiedersehen mit der Elsässerin Mathilde, die ihrem Mann Amine nach Marokko gefolgt ist, wo beide endlich reich geworden sind. Mittlerweile haben die 60er begonnen, und die Kinder der Familie kommen in Kontakt mit Rockmusik und Hippie-Kultur. Doch die Befreiung von den Kolonialist:innen hat vielen Marokkaner:innen nicht die gewünschte Freiheit gebracht. Erneut verwebt Slimani persönliche Schicksale äußerst elegant mit der Entwicklung eines Landes, und erneut fällt dabei vor allem ihre Abneigung gegen irgendeine Form von Happy End ins Auge: Auch eine glückliche Liebe wird von der Zeit zermürbt, auch ein moderner Mann ist tief drinnen Sexist, und Reichtum gibt es nicht ohne Ausbeutung. Der realistische Blick stammt daher, dass Slimani ihre Familiengeschichte adaptiert. So erweist sich Slimanis Trilogie im zweiten Teil als gemächlich wachsendes Epos. Für den Abschluss sind wir in sicheren Händen.
Luchterhand, 2022, 384 S., 22 Euro
Aus d. Franz. v. Amelie Thoma
Die besten Bücher im November 2022
TOP 3
3. Sayaka Murata: Zeremonie des Lebens
Was wäre, wenn wir in einer Welt leben würden, in der wir Menschen als Haustiere halten, unsere verstorbenen Freunde und Verwandten essen und Sex bloß als ein technisches Mittel zum Erhalt unserer Spezies verstehen? Wahrscheinlich würde es uns gar nicht so groß anders vorkommen – so zumindest Sayaka Muratas These. Die japanische Schriftstellerin entlarvt mit der Textsammlung „Zeremonie des Lebens“ die Kontingenzen dessen, was wir Realität nennen. Ihre zwölf skurrilen Kurzgeschichten rangieren zwischen makaber und märchenhaft, und sie versetzen unseren moralischen Kompass in schwindelerregende Dauerrotation. Wie ein etwas zu ehrliches Kind im Bus deutet Murata immer wieder unverblümt auf die Abgründe des menschlichen Daseins, wobei sich die Leser:innen ruhig peinlich ertappt fühlen sollen.
Die zwölf allegorischen Erzählungen sind inhaltlich komplett voneinander getrennt, jede Geschichte öffnet die Tür zu einer völlig neuen Welt. Doch einige grundlegende Themen wiederholen sich: Fünf der zwölf Geschichten drehen sich explizit um Sexualität und wie diese von repressiven gesellschaftlichen Strukturen geformt wird. Die strukturelle Macht der Zwänge und Traditionen ist Muratas zentrales Thema. Doch weder lehnt Murata alle gesellschaftlichen Strukturen kategorisch ab, noch negiert sie die Kraft des Individuums. Vielmehr zeigt sie, dass nichts so sein muss, wie es ist. Nicht ohne Grund schließt das Buch mit einer emanzipatorischen Geschichte fluider und hybrider Identitäten – und versöhnlich gesteht Murata ein: „Normalität ist ja auch eine Art von Wahnsinn.“
Aufbau, 2022, 286 S., 22 Euro
Aus d. Japan. v. Ursula Gräfe
2. Mohsin Hamid: Der letzte weiße Mann
Eines Morgens wacht Anders auf und hat plötzlich eine viel dunklere Hautfarbe. Er ist nicht allein: Immer mehr weiße Menschen verwandeln sich über Nacht, die Wissenschaft findet weder eine Erklärung noch ein Mittel dagegen. Bald bricht Panik im Land aus, es folgen Lynchmorde und bürgerkriegsähnliche Zustände. Worauf Mohsin Hamid mit seinem Roman hinauswill, ist offensichtlich: Er kommentiert die Ängste der bigotten Weißen im Angesicht von Einwanderung und Black Lives Matter. Dass eine eigentlich rein kosmetische Veränderung gleich in Gemetzel mündet, ist dabei leider wohl kaum weit hergeholt. Wirklich spannend ist vielmehr, dass Hamid sein zynisches Schreckensszenario mit viel Einfühlungsvermögen und sogar Optimismus konterkariert: Zwischen Anders und seiner On-off-Beziehung Oona erblüht eine echte Liebe, die Unruhen gehen irgendwann vorbei, und selbst Oonas rassistische Mutter lernt ihre Lektion. Nebenbei muss sich Anders noch von seinem sterbenden Vater verabschieden. All das schildert Hamid in langen, assoziativen Sätzen, die an ein Gespräch mit einem Freund erinnern – einer, der uns daran glauben lässt, dass vielleicht doch noch alles gut enden wird.
Dumont, 2022, 160 S., 22 Euro
Aus d. Engl. v. Nicolai von Schweder-Schreiner
1. Kim de l’Horizon: Blutbuch
„Wie sehen Texte aus, wenn nicht ein menschliches Mustersubjekt im Zentrum steht und die Welt begnadet ins Förmchen goethet?“ In dem mit den Deutschen Buchpreis 2022 ausgezeichnetem Debüt „Blutbuch“ macht sich Kim de l’Horizon auf die derzeit wohl radikalste Identitätssuche in der Literatur – und das bedeutet eben auch, dass der bisherige Blick auf die Familie aufgearbeitet werden muss. Eine nonbinäre Erzählfigur erinnert sich an die Kindheit in einem Berner Vorort und macht sich ausgelöst durch die Demenzerkrankung der Großmutter an eine ganz und gar eigenwillige Familienchronik. Ein Leitmotiv ist die vom Großvater im Garten gepflanzte Blutbuche: Der von seinem Umfeld als Junge gelesene Kim lässt sie in seiner Vorstellung in sich wurzeln, um die innere Leere zu füllen.
Doch bleibt es nicht bei betulichen Kindheitserinnerungen: Immer wieder wechselt die Erzählfigur den Ton und die Perspektive. Als offen queer lebendes Subjekt sucht sie später die philosophische Durchdringung, spiegelt Fragilität und die Angriffe auf den nonbinären Körper durch die in der Kindheit gehörten Geschichten über Hexenverfolgung – und gebärt schließlich selbst in einem futuristischen Rap. Analsex steht hier neben Derrida-Reflexionen, rauschhaftes Erzählen folgt auf verschwurbeltes und dennoch hochinteressantes Reflektieren. Kim de l’Horizon selbst spricht von „écriture fluide“ – und der chaotische, so überfordernde Text funktioniert, weil er einer Dramaturgie des Erfühlens folgt.
Dumont, 2022, 336 S., 24 Euro