Die besten Bücher für den Herbst 2020
Der Herbst ist da – das heißt mehr Zeit für Gemütlichkeit und zum Lesen dicker Schmöker. Wir haben die fünf besten Herbstbücher.
Téa Obreht: Herzland
Im Original trägt Téa Obrehts Roman den Titel „Inland“, was weniger nach Cecelia Ahern klingt als das deutsche „Herzland“. Wobei Obrehts Hauptfiguren – die Farmerin Nora und der jugendliche Outlaw Lurie – mindestens so einsam sind wie die Protagonist*innen schmalziger Liebesromane. Im US-amerikanischen Westen des ausgehenden 19. Jahrhunderts kämpfen sie sich in zwei aufeinander zusteuernden Erzählsträngen durch ein Leben der Entbehrungen, der Gesetzlosigkeit und der ständigen Konfrontation mit dem Tod. Beide hat dieses Leben nach außen hin hart gemacht: Nora, die bei größter Dürre auf ihrer Farm in Arizona ausharrt und mit dem kläglichen Rest ihrer kleinen Familie auf den vermissten Mann sowie die im Streit fortgegangenen ältesten Söhne wartet; Lurie, der wegen Mordes gesucht wird und dessen Flucht zu einer abenteuerlichen Reise gerät. Gegen die Einsamkeit hilft nur der liebevolle Dialog mit den Toten, wobei Lurie seine Erzählung an ein Kamel namens Burke richtet und die Farmerin immer wieder zu ihrer vor langer Zeit am Hitzschlag gestorbenen Tochter spricht. Die 35-jährige Téa Obreht, geboren in Belgrad, aufgewachsen in den USA, entlockte der internationalen Literaturkritik bereits mit ihrem Debüt „Die Tigerfrau“ (2011) den ein- oder anderen Jubelschrei. Mit „Herzland“ legt sie jetzt nach, und das Warten hat sich gelohnt: Gekonnt haucht sie dem Westerngenre neues Leben ein, wobei ihre ungewöhnlichen Hauptfiguren sie vor Schablonenhaftigkeit bewahren. Statt Macho-Cowboys und Klischee-Indianer*innen präsentiert sie zwei komplexe Persönlichkeiten samt spannender Nebenfiguren, statt romantischer Sonnenuntergänge schildert sie die ebenso lebensfeindliche wie wunderschöne Landschaft mit großer Klarheit. Und selbst die vielen Geister und Dämonen, die durch die Geschichte wabern, haben etwas Präzises, Bodenständiges. „Herzland“ ist zugleich Western, Fantasy-, Liebes- und Abenteuerroman, es flimmert und flirrt von der ersten bis zur letzten Seite. Wer möchte, kann in Noras sogar eine feministische, in Luries eine Migrationsgeschichte erkennen. Wem das zu viel an Interpretation ist, kann die große Fabulierkunst der Téa Obreht auch einfach: genießen.
Rowohlt Berlin, 2020,
512 S., 24 Euro
Aus d. Engl. v. Bernhard Robben
Elsa Koester: Couscous mit Zimt
In Elsa Koesters Debütroman geht es um Fremdbestimmung, um Heimat und Identität – kurz darum, dazuzugehören. Lisa ist als Tochter eines Deutschen und einer Französin aus Tunesien in Berlin aufgewachsen. Anders dagegen ihre Mutter Marie und Großmutter Lucile: Beide mussten ihre tunesische Heimat nach dem Ende der französischen Kolonialzeit verlassen, was vor allem an Marie nicht spurlos vorbeigegangen ist. Auch Luciles kinderreicher Lebensweg entsprach nicht dem, was sich die freiheitsliebende und eigensinnige Frau einst gewünscht hatte. Die verschleppten Traumata ziehen sich durch drei Generationen und kommen in subjektiver Erinnerung zur Sprache. „Couscous mit Zimt“ von Elsa Koester steht auf unserer Liste der besten Bücher im Oktober 2020.
FVA 2020
448 S., 24 Euro
Sally Rooney: Normale Menschen
Ihre Plots sind vermeintlich unspektakulär: In Sally Rooneys auch hierzulande sehr erfolgreichem Debüt „Gespräche mit Freunden“ schwadronieren die vier Protagonist*innen über Sex und Freundschaft, Kunst und Literatur, Politik und Genderfragen. Mehr nicht. Wenn jetzt der noch sehr viel bessere und bereits im Jahr 2018 für den Man Booker Prize nominierte Nachfolger der literarschen Überfliegerin aus Irland endlich in deutscher Übersetzung erscheint, ist auch die Handlung von „Normale Menschen“ schnell erzählt: Es geht um die Anti-Liebesgeschichte von Marianne und Connell, die sehr schnell merken, dass ihre Zuneigung füreinander etwas ganz Besonderes ist. Doch über den Status einer On-Off-Beziehung kommen sie nie hinaus. Während ihrer Jugend im ländlichen Sligo halten sie ihre Affäre geheim: Marianne schämt sich, weil Connells Mutter für ihre Familie als Putzfrau arbeitet, und der allseits beliebte Fußballstar mag sich nicht zu Marianne bekennen, weil sie von seinen Freunden als Freak verspottet wird. Später, während des Studiums in Dublin, haben sich die Rollen vertauscht: Die belesene Marianne ist überall gern gesehen, doch nun ist Connell der Außenseiter aus einfachen Verhältnissen. Die 29-jährige Sally Rooney erzählt diese Geschichte in einem rasanten Tempo und verschwendet keine Zeit auf Metaphern und literarische Schönfärberei. Wie vielschichtig und tiefgehend ihr Roman dennoch ist, lässt sich auf Starzplay an der auf Rooneys Roman basierenden zwölfteiligen BBC-Serie ablesen. Soziale Scham, häusliche Gewalt, Depression, Essstörungen, Selbsterniedrigung: Regisseur Lenny Abrahamsom formuliert all diese Themen aus, die Rooney mit dem Blick des Millennials nur streift, um gesellschaftliche Verhältnisse komplett pathosfrei abzubilden. Das ergibt Platz zwei auf unserer Liste der besten Bücher im September 2020.
Luchterhand, 2020, 320 S., 20 Euro
Aus d. Engl. v. Zoë Beck
Simone Jung & Jana Marlene Hader (Hg.): Denkräume
Hereinspaziert und herzlich willkommen im Raum der Räume. Bitte machen Sie es sich bequem. Sie befinden sich zur Zeit in den Köpfen von Simone Jung und Jana Marlene Hader, beziehungsweise in dem Raum, den die Worte erschaffen haben, die ihre Köpfe über den Umweg verschiedener Körper und der Technik zu Papier gebracht haben. Über kurz oder lang werden Sie noch in andere Köpfe eintreten. Was das zwangsläufig mit sich bringen wird, ist wiederum das Eintreten in immer andere Räume: Sie werden in sterilen Lobbys untergebracht, Sie werden durch Bibliotheken schlendern, in Zügen fahren, und Sie werden in Universitäts-Cafés bei einem Espresso überarbeiteten Akademiker*innen beim Einschlafen auf den Tischen zusehen. Durch diese Räume führen Sie von Jung und Hader ausgewählte Reiseführer*innen und zertifizierte Denkflaneur*innen, die ihre jeweils eigenen Räume nach Lust und Laune gestaltet haben. Sie werden in diesen Räumen denken, und diese Räume werden für Sie gedacht: Sie werden auf Paddelbooten über den Unterschied zwischen Paddelbooten und Arbeitszimmern sinnieren, sich in todschicken Agenturräumlichkeiten nach dem Meer sehnen und beim Vermessen von Küchen über Form und Nutzung von Gebrauchsräumen plauschen. Ob, wann und warum Ihre Reise gelingt – das sei Ihnen überlassen. Hier sind die Schlüssel. Der Raum der Räume steht Ihnen von nun an für immer zur freien Verfügung. Genießen Sie Ihren Aufenthalt!
Rowohlt, 2020, 413 S., 15 Euro
T.C. Boyle: Sind wir nicht Menschen
Die Moral vieler der 19 Geschichten aus der neuesten Textsammlung von T. C. Boyle ist spätestens seit „Jurassic Park“ bekannt: Das Leben lässt sich nicht einsperren, es erobert neue Territorien, es überwindet sämtliche Barrieren. Doch wie in Spielbergs Klassiker lassen sich die Figuren in „Sind wir nicht Menschen“ nicht von der Kraft der Natur beeindrucken. Erst wenn der geklonte Hund das klavierspielende Mikroschwein der Nachbarin zerfleischt, hinterfragen die Kleinstadtbewohner der Zukunft die Rechtmäßigkeit, mit der der Mensch moralische Grundsätze aushebelt. Es mag Boyles Liebe zur Natur geschuldet sein, dass sie in fast allen Geschichten die Oberhand behält und mit Überschwemmungen, Dürren und ausbrechenden Tigern zurückschlägt. Auch wenn das Milieu vieler Protanogist*innen nach einigen Geschichten redundant ist – kreativ tätiger Mann mit Collegeabschluss trifft in Vorstadt auf kreativ tätige Frau mit Collegeabschluss –, sorgen verschiedene Erzählperspektiven für Abwechslung. Vom triebgesteuerten Innenleben eines ausgebrochenen Tigers bis zum Familienvater, dessen Beziehung zu seiner Tochter unter dem zwanghaften Gebrauch einer Erinnerungsmaschine leidet: Boyle beleuchtet alle erdenklichen Sichten der Apokalypse. Skurriles Highlight von „Sind wir nicht Menschen“ ist die Erzählung „Der Fünf-Pfund-Burrito“. Die Kombination aus grotesker Science-Fiction und komischem Surrealismus zeigt Boyles stilistische Bandbreite und destilliert das Problem vieler anderer Figuren in einem Appell: „Du übertreibst es (Salvador). Du führst das Schicksal in Versuchung. Du bist maßlos und denkst, du bist was Besonderes, aber in Wirklichkeit bist du überhaupt nichts Besonderes, sondern bloß ein einfacher Mann.“
Hanser, 2020, 400 S., 23 Euro
Aus d. Engl. v. Anette Grube u. Dirk van Gunsteren