Süßer Schwindel
In „Aus der Zuckerfabrik“ von Dorothee Elmiger werden die Lesenden mit der Suche der Autorin nach Zusammenhängen konfrontiert.
„Martin, der Lektor, sagt, im Falle einer Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen müsse auf jeden Fall ,Roman’ auf dem Umschlag stehen. […] Ich sage, es handle sich um einen Bericht über eine Recherche.“ Mit diesem Satz, ungefähr in der Mitte von „Aus der Zuckerfabrik“, fasst Dorothee Elmiger ihr neues Buch gut zusammen. Statt mit einer Handlung oder Figuren, die mehr als Initialen sind, werden Leser mit Elmigers eigener Suche nach einem Zusammenhang konfrontiert. Dorothee Elmiger ist wie besessen von einzelnen historischen Szenen, die ein denkbar weites Feld abdecken: die Versteigerung der Besitztümer eines bankrotten Lottogewinners. Eine Doku über eine dominikanische Zuckerplantage. Die Aufzeichnungen einer frühen Patientin der Psychoanalyse. Kapitalismus und Kolonialismus. Ihre eigene Suche nach Liebe. Jede Menge Literatur. Was haben all diese Komplexe gemeinsam? Die Autorin weiß es selbst nicht genau – aber sie ahnt, dass der menschliche Hunger, das Begehren in all seinen Facetten von Sehnsucht bis Gier eine zentrale Rolle spielt. Was sperrig beginnt, entwickelt bald einen hypnotischen Sog: Man sieht zu, wie Elmiger Fragmente aufhäuft, und wie ihr selbst schwindelt einem von den plötzlich sichtbaren Verbindungen. Das Schönste an diesem sehr schönen Buch ist die Art, wie es sich zuletzt selbst als Illustration des menschlichen Hungers erweist: des Hungers nach Wahrheit. Und damit hat es Dorothee Elmiger auch auf unsere Liste mit den besten Büchern im September 2020 geschafft.