Sperrig, wütend, reduziert – und dafür umso spannender: Die Alben der Woche
Haiyti hat ihre Krise durch Wut überwunden, Tribe fordern ihre Hörer*innen ganz schön heraus, und Son Lux kehren zu ihren Wurzeln zurück. Die Alben der Woche.
In Zeiten der Krise sehnen sich die meisten nach Komfort und Sicherheit – das könnte man zumindest meinen. Wenn man sich aber durch die aktuellen Platten hört, stellt sich ein anderer Eindruck ein. Denn überraschend viele Musiker*innen scheinen zum Ende des Jahres noch einmal Lust auf Krawall zu bekommen. Und so stellen unsere Alben der Woche ihre Hörer*innen stellenweise ziemlich auf die Probe. Aber keine Angst: Die anfängliche Sperrigkeit macht bald dem Genuss Platz.
Da ist einerseits Haiyti: Erst vor wenigen Monaten hat sich die Rapperin auf „Sui sui“ so poppig und melodisch gegeben wie nie zuvor. Wir fühlten uns gar an Kanye Wests „808s & Heartbreak“ erinnert. Schon im Dezember meldet sie sich zurück, doch „Influencer“ ist weit weniger melancholisch als der Vorgänger. Stattdessen ist Haiyti darauf maximal auf Krawall gebürstet, es wird laut, schrill und aggressiv. Fans der früheren Platten wird es freuen.
Fans der ersten Stunde kommen auch beim neuen Album von Son Lux auf ihre Kosten. Denn nach immer mehr Bombast besinnt sich die Band nun auf ihre Anfangsphase, in der sie noch das Soloprojekt von Ryan Lott gewesen ist. „Tomorrows II“ kommt entsprechend reduziert und fokussiert daher.
Auch Tribe, das Jazzquintett um John-Dennis Renken, ist nicht gerade versöhnlich gestimmt. Um „Stop & Frisk“ würdigen zu können, bedarf es dann auch einiger Konzentration. Doch es lohnt sich, denn Tribe stellen sich im Verlauf des Albums als wahre Helden heraus. Die Alben der Woche:
Haiyti: Influencer
Erst im Sommer hat sich Haiyti auf „Sui Sui“ überraschend verletzlich gezeigt. Zeitweise schien sie das Rappen gar für das Balladensingen aufgegeben zu haben. „Influencer“ soll jetzt eine Rückkehr zu den Wurzeln sein. Mehr aggro und mehr Straße ist die Platte auch – teilweise. Nicht wenige Tracks erinnern trotzdem an den todtraurigen Vorgänger, und auf dem Opener „Comeback“ blickt die Rapperin auf ihren dunkelsten Moment zurück: „Ich habe alles, was ich liebe, verflucht/Mann, ich wollt’ es fast tun/Und ich weiß, es war nicht cool“.
Doch sie ist wieder da und bereit, die Konkurrenz niederzumähen: ob mit purer Abfälligkeit („Sweet“), der BB-Gun („Tak Tak“), oder mit „Burr“, ihrem vielleicht aggressivsten Song bisher. Wie das wunderbar geschmacklose Cover andeutet, hat Haiyti zugleich denkbar viel Spaß an Kitsch, an Ironie, an Anachronismen: Das Highlight „Benzin“ mit seinen übersteigerten Emotionen erinnert etwa an den besten Trash der 90er. Alle diese Gesichter vereint Haiyti so mühelos wie die unterschiedlichsten Flows – und zeigt einmal mehr, dass sich noch viel zu wenig Künstler*innen von ihr influencen lassen.
Tribe: Stop & Frisk
John-Dennis Renken ist ein Trompeter, der keine Gefangenen macht. Lass die anderen den Crowdpleaser spielen, wir haben hier ein paar ernste Dinge abzuarbeiten. Tribe ist ein Quintett, das jazzaffine Spielweisen zu einem Sound zusammenführt, der uns alles abverlangt: uneingeschränkte Konzentration, volle Toleranz gegenüber Atonalität und rhythmischen Wechselbädern, Interesse an harten Fusionsounds. Wer sich dem hingeben mag, bekommt dafür eine hochintensive Ladung kreativer Ensembleintelligenz. Renkens eloquente Dialogpartner*innen sind die Altsaxofonistin Angelika Niescier und Posaunist Klaus Heidenreich, Gitarrist Andreas Wahl und Drummer Bernd Oezsevim mischen das Bläsertrio brutal auf. Dass sie auf dem Cover in Heldenkostümen posieren, ist stimmig: „Stop & Frisk“ ist nichts für die Clark Kents und Bruce Waynes dieser Welt, sondern für die Liga der Super- und Batmen.
Son Lux: Tomorrows II
Hat hier etwa jemand schon Son Lux abgeschrieben? Klar, zunächst hat man sich gefreut, dass Ryan Lott zwei Mitstreiter gefunden hatte, mit denen er seine frühen, komplett im Alleingang entworfenen Studio-Großtaten wie „We are rising“ und „Lanterns“ auf die Bühne bringen konnte. Doch dann durften Gitarrist Rafiq Bhatia und Schlagzeuger Ian Chang auch mit ins Studio – und besonders bei Konzerten sind sie trotz nach wie vor großartiger und innovativer Songs dem Prog-Bombast à la Muse immer näher gekommen.
Ein als Trilogie angekündigtes Album stoppt jetzt die Sound-Expansion: Nach dem Start im August präsentieren sich Son Lux auch auf „Tomorrows II“ ganz reduziert. Mal sind es dunkle Pianoklänge („Warning“), mal freidrehende Percussionsounds („Molecules“), über die Lott sein Falsett legt, und am Ende steht mit „Live another Life“ eine zerbrechliche Hymne. Das Finale ist für Sommer 2021 angekündigt, und dann soll es auch alle drei Teile auf Vinyl geben.