„Hot Milk“: Die Fesseln der Mutter sprengen

Im Kino startet mit „Hot Milk“ das Debüt von Rebecca Lenkiewicz. Die Stars Emma Mackey, Fiona Shaw, Vicky Krieps machen diesen Film der Befreiung zur Pflicht.
In ihrem Regiedebüt „Hot Milk“ erzählt die gefeierte Drehbuchautorin Rebecca Lenkiewicz von den komplexen Beziehungen dreier starker Frauen untereinander – und von Familie, Verantwortung, Begehren und Befreiung.
Eigentlich müsste man als Zuschauer:in für Rose Mitgefühl und Bedauern empfinden. Aufgrund einer medizinisch nicht erklärbaren Lähmung und chronischer Schmerzen in den Beinen ist die Mittsechzigerin an den Rollstuhl gefesselt, ihre fürsorgliche Tochter Sofia („Barbie“-Star Emma Mackey) kümmert sich aufopferungsvoll um sie, verzichtet auf ein eigenes Leben und lässt sogar ihr Anthropologie-Studium schleifen. Doch Dank darf sie von Rosa dafür nicht erwarten. Stattdessen muss Sofia die Gemeinheiten und Verbitterung ihrer Mutter ertragen. Noch nimmt sie deren manipulatives und toxisches Verhalten schweigend hin und fügt sich in diese ungesunde Mutter-Tochter-Beziehung. Aber unterschwellig stauen sich Wut, Widerwillen und ja, vielleicht auch schon Hass. Nun sitzen die beiden Frauen aus London in dem tristen spanischen Küstenort Almería, nicht etwa um Urlaub zu machen, sondern weil Rose sich bei einem obskuren Heiler (Vincent Pérez, „Bolero“) Hilfe von ihrem geheimnisvollen Leiden erhofft. Sofia hält den Therapeuten jedoch für einen geschäftstüchtigen Scharlatan und die Lähmungen für eine eingebildete Krankheit.
In dieser höchst angespannten Situation platzt eine junge Frau in Sofias Leben. Genauer gesagt reitet sie ihr in flatterndem Gewand am Strand auf einem Pferd entgegen. Regisseurin Rebecca Lenkiewicz inszeniert diese surreale Szene in Slow Motion und grellem Gegenlicht wie eine Fata Morgana. Doch diese Reiterin, die deutsche Touristin Ingrid, ist real, auch wenn sie bis zuletzt stets etwas mysteriös und nie ganz greifbar wird. Die charismatische Frau ist gleichermaßen Verführerin und Retterin. Sie wird nicht nur Sofias Geliebte, sondern ist auch ein großes Freiheitsverspechen und wird zum Katalysator, der Sofia hilft, sich aus den Fesseln ihrer vereinnahmenden Mutter zu befreien.
„Hot Milk“, basierend auf dem gleichnamigen Roman der Britin Deborah Levy, ist das Regiedebüt von Rebecca Lenkiewicz. In ihren gefeierten Drehbüchern – etwa für das von Maria Schrader inszenierte Me-too-Drama „She Said“, für das Biopic „Colette“ oder Marianne Elliots am 17. 7. startende Spielfilm „Der Salzpfad“ – hat Lenkiewicz stets starke, unkonventionelle und kämpferische Frauen ins Zentrum gerückt. In „Hot Milk“ ist das nicht anders. Hier erzählt sie nicht nur von der ungewöhnlichen, von körperlicher Leidenschaft geprägten Affäre dieser beiden jungen Frauen, sondern auch von Sofias Selbstfindung und ihrer Emanzipation von Rose. Nicht zuletzt war es Levy eine große Lust, wie die Regisseurin es formulierte, Strand- und Liebesszenen mal nicht mit einem männlichen Blick á la „Bay Watch“, sondern amazonenhaft wild zu inszenieren. Unter der drückenden Hitze Andalusiens treten bei allen drei Hauptfiguren nach und nach Lebenslügen und Geheimnisse zutage, die ihre bisherigen Existenzen geprägt haben.

Hot Milk: Lebenslügen und Geheimnisse
Rebecca Lenkiewicz konnte sich für dieses vielschichtige Beziehungsdrama zu Recht auf ihre Hauptdarstellerinnen verlassen. Vicky Krieps („Das Boot“, „The Dead don’t hurt“) macht Ingrid zu einer charismatisch-freigeistigen und zugleich undurchschaubaren Figur. Sofias innere Anspannung ist durch Emma Mackeys Darstellung selbst in kleinsten Regungen zu erspüren, und Fiona Shaw („True Detective: Night Country“, „Killing Eve“) spielt die Verbitterung von Rose so differenziert aus, dass sie auch die Geduld des Kinopublikums auf die Probe stellt. Und zwar so sehr, dass man geneigt ist, Sofia zu ihrem drastischen wie überraschenden Schritt in der finalen Szene Beifall zu spenden.