Jahresrückblick 2019: Die 25 Lieblingsalben von Carsten Schrader
Es ist der erste Jahresrückblick von Musikredakteur Carsten Schrader, in dem Lana Del Rey auftaucht. Und eine Band mit gleich zwei Alben.
Beim Jahresrückblick merkt man dann doch, dass das Musikjahr doch gar nicht so mittelmäßig gewesen ist. Leicht war es jedenfalls nicht, auf 25 Alben zu reduzieren. Aber es gibt ja auch noch die Liste mit den 25 Lieblingssongs …
25 Hayden Thorpe Diviner
Wild-Beast-Platten habe ich mir immer über das Konzept erschlossen: Stets war da ein spannendes Statement und eine starke Haltung, und erst in diesem Rahmen haben die Songs ihre volle Wirkung erzielt. Die reduzierten und sehr emotionalen Songs von Hayden Thorpes Solodebüt funktionieren sehr viel unmittelbarer über das Songwriting. Da kann dann auch Exkollege Tom Fleming aka One True Pairing nicht mithalten.
24 Die Kerzen True Love
Natürlich meinen es Die Kerzen nicht ernst, wenn sie so tun, als wären sie im geschmackssicheren Teil der 80er hängengeblieben. Trotzdem müssen die vier noch gar nicht so alten Menschen aus Ludwigslust doch irgendwie auch an diese Idee des bedingungslosen Verliebtseins glauben, die auch den tristesten Alltag überwindet – wie sonst wären ihnen so herzerweichende Wavepopsongs wie „Désolé“ oder der Titelsong gelungen? Ich will jedenfalls auch, dass jemand mit zwei Schachteln Pall Mall an meiner Tür klingelt und genau diesen Satz sagt: „Ich hol dich hier raus, Baby, wir sind unzerteilbar.“
23 Marika Hackman Any human Friend
Schon ihre ersten, sehr reduzierten Folk-EPs waren persönlich, doch wenn die 27-jährige Londonerin auf ihrem dritten Album jetzt ganz selbstverständlich Noiserock, elektronische Elemente und ganz viel Popappeal einbezieht, sind auch die Texte noch mal offener, direkter und angriffslustiger. Fragt man Marika Hackman übrigens nach ihrer Lieblingszeile vom neuen Album, so nennt sie „Under patriarchal law, I’m going to die a virgin“ aus dem Song „Hand Solo“, der die Vorzüge der Selbstbefriedigung preist. „Ich finde den Satz einfach lustig, aber gleichzeitig greift er auch eine gesellschaftliche Tendenz auf, die mir wahnsinnig gegen den Strich geht: Wenn man Sex ausschließlich als Penetration definiert, spricht man mir damit meine Sexualität ab.“
22 Die Goldenen Zitronen More than a Feeling
Musikalisch wenden sich die Goldies jetzt stärker zeitgenössischen Produktionstechniken zu, was zwischen Elektrotwist und dem „Ohlalala“-Refrain von „Nützliche Katastrophen“ ihr wohl anschmiegsamstes Album ergibt. Doch von der überraschend wenig verklausulierten Positionierung in den Texten sollte man sich nicht hinters Licht führen lassen. Sie schließen daran sehr wohl eine genauere Hinterfragung und die so wichtige Selbstreflexion an.
21 Jungstötter Love is
„Fickt euch, das ist einfach sauschön!“ Fabian Altstötter kann ungemütlich werden, wenn die Kompositionen des von ihm so bewunderten Scott Walker als Weihnachtsmusik bezeichnet werden. Nach dem elektronischen Indiepop von Sizarr überrascht Altstötter auf dem Debüt seines Soloprojekts Jungstötter mit düsteren Pianosongs, die dann am besten sind, wenn er sie ganz reduziert arrangiert oder aber mit elektronischem Noise durchsetzt.
20 Jenny Hval The Practice of Love
Jenny Hval geht stets dahin, wo es weh tut, doch mit ihrem neuen Album erschafft sich die norwegische Performancekünstlerin und Musikerin einen Schutzraum. Wenn sie das Wesen der Liebe ergründen will, geht es ihr natürlich um alternative Konzepte, die sich nicht dem gesellschaftlichen Mainstream beugen und nach Verbindungen und Empathie unter den Andersdenkenden streben. So eingängig und anschmiegsam wie etwa bei der Single „Ashes to ashes“ oder „Six red Cannas“ mag man Hval nie zuvor gehört haben, doch hält sie mit intelligenten Texten dagegen.
19 Nick Cave & the Bad Seeds Ghosteen
Das 17. Studioalbum kostet Überwindung: Weder Schlagzeug noch Gitarre sind zu hören, stattdessen dominiert ein pastellfarbener Schönklang aus Synthesizerflächen und Klavier, während Cave von pathetischen Chören unterstützt seine großgestigen Melodien vorträgt und sich dabei bis zum Falsett wagt. Doch im zweiten Teil melden sich Zweifel, ob der Kitsch gegen den Schmerz hilft: „I’m gonna buy me a house up in the hills/with a tear-shaped pool and a gun that kills.“ Es ist der epische Abschlusssong „Hollywood“, mit dem er Verlust und Trauer als unvermeidbare Bestandteile des Lebens akzeptiert: „I’m just waiting now for peace to come.“
18 Bon Iver i, i
Die Platte nach dem Meisterwerk: Einerseits behält Justin Vernon die Experimentiererei bei, andererseits gibt es auch deutliche Rückbezüge zum organischen Sound der Anfangstage. Kontraste stehen nebeneinander, werden aber von Vernons Stimme zusammengehalten, die so selbstbewusst wie nie zuvor das Zentrum der Kompositionen bildet.
17 Ex:Re Ex:Re
Mit digitaler Veröffentlichung im November 2018 und dem Vinyl-Release am 1. 2. 2019 hing das Soloalbum von Daughter-Sängerin Elena Tonra etwas unglücklich zwischen den Jahren. Ganz eigentlich gehört diese Trennungsplatte in beiden Jahren aufs Treppchen – nicht zuletzt, weil sie in „The Dazzler“ das anonyme Hotelzimmer als Fluchtmöglichkeit aus der tiefsten Einsamkeit vorschlägt: „I keep begging for late checkouts, let me stay here, let me live here in room 232 till I expire, I can shower for hours, leave the lights on, I’m not paying those bills.“
16 Big Thief Two Hands
Hätten sie nicht ein knappes halbes Jahr vor dieser Platte bereits „U.F.O.F.“ veröffentlicht, würden Big Thief in dieser Liste mit „Two Hands“ viel weiter vorne stehen. Es ist nur das zweitbeste Big-Thief-Album in diesem Jahr, die Songs sind etwas bodenständiger als die von „U.F.O.F.“ – und trotzdem ist es ein herausragendes Album. Vor allem die Vorabsingle „Not“ ist ein sehr herausragender Song.
15 DIIV Deceiver
Das bislang in sich stimmigste DIIV-Album: Unter der Regie von Produzent Sonny Diperry fahren sie mehr Shoegaze-Gitarren auf, behalten den Fokus auf eingängige Melodien aber bei. Der Sound an sich mag überkommen sein – bei Songs wie „Horsehead“, Skin Game“ und „Blankenship“ ist mir das aber scheißegal.
14 Whitney Forever turned around
Hätte ich nicht die rosafarbene Brille auf, könnte ich die Kollegen vielleicht sogar ein bisschen verstehen, die Whitney als langweilig beiseite wischen. Allzu groß sind die Unterschiede zum Debüt nicht: „Forever turned around“ ist üppiger arrangiert und verschiebt den Fokus von den 60ern zu den 70ern. Mit Brille aber schwärme ich vom Songwriting, von Julien Ehrlichs Falsett-Gesang und den simplen, aber doch so berührenden Texten.
13 Tyler, The Creator Igor
Irgendwie habe ich schon immer geahnt, dass Tyler, The Creator mal mein boy werden wird – und das liegt natürlich nicht nur an „I ain’t got Time“. Habe mit „Igor“ auf den Vinyl-Release gewartet und bin noch mittendrin, all den wunderbar verspulten Andockpunkten aus R’n’B und Soul nachzugehen.
12 Aldous Harding Designer
Mir ging „Party“ wegen der Ecken und Ausbrüche näher, doch allein schon wegen der Tanzmoves von Aldous Harding in Video zu „The Barrel“ habe ich mich auf das dritte Album der Neuseeländerin eingelassen. Stimmlich und textlich wird sie immer besser.
11 Thom Yorke Anima
Nachdem „Tomorrow’s modern Boxes“ voll an mir vorbeiging, bin ich jetzt wohl dank der melodiösen Haltegriffe wieder voll dabei. „Anima“ habe ich ungefähr doppelt so häufig gehört wie das letzte Radiohead-Album. Über allem thront „Twist“, und mit „Dawn Chorus“ kämpfe ich mich durch den Feiertagsblues.
Unsere Lieblingsalben im Jahresrückblick: Die Top 10
10 James Blake Assume Form
Eine kleine Enttäuschung muss sein drittes Album wohl schon sein, wenn es in meinen Jahrescharts nicht auf dem extra für James freigehaltenen Platz eins landet. „Don’t miss it“ kannte man ja schon aus 2018 – aber was ist mit weiteren Übersongs? Die vernebelte Abschlussballade „Lullaby for my Insomniac“ ist Wächter und Beistand in schlaflosen Nächten, auch das Rosalía-Duett „Barefoot in the Park“ ist wunderschön, und exklusiv auf der Vinyl-Version ist mit „Mulholland“ noch ein weiterer Höhepunkt versteckt. Das sehr beliebige „Mile High“ mit Travis Scott und ein paar andere Durchschnittlichkeiten bringen aber Punktabzug.
9 Vampire Weekend Father of the Bride
Nach mehr als sechs Jahren endlich ein neues Album. Country, Flamenco, Paul-Simon-Reminiszenzen, viel Sonnenschein, Gäste wie Jenny Lewis und Danielle Haim: Mit 18 Songs und einer Stunde Spielzeit hat „Father of the Bride“ zunächst eine Playlist-Anmutung, doch dann fügt es sich eben doch zum besten POP-Popentwurf des Jahres zusammen. Was nicht heißt, dass man neben „Harmony Hall“ nicht auch noch zu anderen Songs vorspulen darf: Ich bevorzuge da die aberwitzige Grateful-Dead-Hommage „Sunflower“ mit Steve Lacy und ganz besonders die 99 Sekunden von „2021“.
8 Lana Del Rey Norman Fucking Rockwell!
Bislang bin ich mit Lana Del Rey nie so wirklich warm geworden, und auch hier kam mein Ankerpunkt erst ganz am Schluss: „Hope is a dangerous thing for a woman like me to have“. Da ging es dann natürlich noch mal zurück, und mit jedem Durchlauf ist mir „Norman Fucking Rockwell!“ mehr ans Herz gewachsen. Vielleicht hat es mit Lana und mir jetzt funktioniert, weil ihre Selbstinszenierung nicht mehr so drüber ist. Vielleicht lag es aber auch an mir – gehe in den Ferien auf jeden Fall noch mal an den Backkatalog.
7 FKA twigs Magdalene
Die neun Stücke des Albums sind mindestens so sehr Kunstlieder wie Popsongs, vor allem existieren sie in einem geradezu hermetisch versiegelten Klang- und Emotionsraum“, schreibt Kollege Bendix über das zweite Album von FKA twigs. Und: „Doch so verzweigt und vielförmig ,Magdalene’ auch ist, am Ende steht ein großes, singuläres, in sich geschlossenes Werk, das Höhen erreicht, für die andere Künstler*innen ganze Karrieren brauchen.“ Stimme seiner Schwärmerei voll zu, merke aber, dass ich für einzelne Songs immer wieder aus der Dramaturgie ausbreche – ganz besonders für den Übersong „sad day“.
6 Black Midi Schlagenheim
Vor dieser Platte hatte ich Angst: Als ich die vier zwanzigjährigen Londoner im November 2018 zum ersten Mal auf einen Festival gesehen habe, war ich von ihren unberechenbaren Kompositionen zwischen Prog, Noise, Punk und Mathrock komplett weggeschossen – und ich war mir total sicher, dass sie auf Platte nicht mal ansatzweise an ihre Live-Energie heranreichen werden. Mit Hilfe von Dan Carey ist es ihnen nun doch gelungen – und wie!
5 Angel Olsen All Mirrors
Beim Fingerpicking-Debüt war ich noch raus, erst über den Bandsound von „Burn your Fire for no Witness“ und vor allem über die 80er-Referenzen von „My Woman“ habe ich mir Angel Olsen erschlossen. Hier hat sie mit einem 14-köpfigen Orchester gearbeitet – doch statt mit Pathos und Bombast die Grenze zum Kitsch zu überschreiten, erschließen die Streicher eine neue Tiefenstruktur. All Mirrors ist Angel Olsens Meisterwerk, zu dem ich in diesem Jahr viel zu viel Rotwein getrunken habe. 2020 hält mich da hoffentlich die eine oder andere Umarmung vom Entkorken ab.
4 Girl Band The Talkies
Mit dieser Platte hat wohl niemand mehr gerechnet: Vier Jahre liegt das Debüt nun schon zurück, und während Sänger Dara Kiely schon damals zur Veröffentlichung über psychische Probleme und Depressionen gesprochen hatte, war wenige Monate nach „Holding Hands with Jamie“ vermeintlich endgültig Schluss: Die irische Noise-Band sagte alle Konzerte ab und zog sich komplett aus der Öffentlichkeit zurück. Und jetzt: The Talkies erinnert an Ganzkörpererfahrungen à la Swans und Sunn O))) und kann sich mit Genreklassikern wie „The downward Spiral“ von Nine Inch Nails messen. Dieses Album ist eine vertonte Panikattacke – und doch liegen inmitten der brachialen Klanglandschaften mit Songs wie „Going Norway“ und „Shoulderblades“ immer wieder melodiöse Haltegriffe.
3 Jessica Pratt Quiet Signs
Mit Jessica Pratts eigenwilliger Stimme muss man erst mal klarkommen – doch wer sich darauf einlässt, dem öffnet ihr drittes Album eine ganz und gar eigene Welt voller melancholischer Schönheit. Für „Quiet Signs“ war sie zum ersten Mal in einem professionellen Studio, doch auch wenn die Arrangements mit Flöte, Orgel und Piano mitunter etwas üppiger ausgefallen sind, wird die Magie nicht zerstört: Im Zentrum stehen nach wie vor ihre zeitlosen Kompositionen – und eben diese herausragende Stimme. Liedlingslied? Ganz klar „Fare Thee Well“, aber mindestens „This Time around“, „Crossing“ und Aeroplane“ müssen hier auch noch unbedingt genannt werden.
2 Weyes Blood Titanic rising
Am Anfang war es diese eine, von Natalie Mering in „Andromeda“ mit wunderschöner Alt-Stimme gesungene Textzeile: „Treat me right I’m still a good man’s daughter.“ Dann kamen immer mehr irgendwie aus der Zeit gefallene Momente hinzu, die in ihrer Großgestigkeit eigentlich gar nicht gehen und vermutlich auch in den 70ern schon too much gewesen wären. Zu komischen Synthesizersounds, oppulenten Streichern und Marching-Drums diskutiert Merling die Absurdität der Liebe, den Verlust von Sinnsystemen und das unausweichliche Ende dieser Welt mit nostalgischen Gesangsharmonien und durchaus auch mit Galgenhumor. Zeitgemäßer ist 2019 doch eigentlich gar nicht zu fassen gewesen.
1 Big Thief U.F.O.F.
Allein der Titelsong: Im Zentrum von U.F.O.F. steht eine mit der Technik des Fingerpicking gespielte Akustikgitarre – doch schiebt ihr das in Brooklyn beheimatete Quartett einen Groove unter, dem sich selbst Hörer nicht entziehen können, die Folk eigentlich langweilig finden. Auch das Thema des Songs ist bei Licht betrachtet nicht wahnsinnig spektakulär: Eine jugendliche Protagonistin sehnt sich danach, von Außerirdischen entführt zu werden, um der Enge ihres Heimatkaffs zu entkommen. „And I imagine you, taking me outta here, to deepen our love, it isn’t even a fraction“ singt die 27-jährige Adrianne Lenker und trotzt dem strapazierten Motiv der unverstandenen Jugendlichen eine so nie gehörte Intensität ab. Der Rest von Big Thiefs drittem Album hält das Niveau: Hier klingt Folk zeitgemäßer als Trap oder irgendwas mit Autotune, und wenn Lenker auf einen Trip ins Unbekannte und Verdrängte mitnimmt, fühlt man sich am Abgrund mindestens umarmt.