„Wunderkind“ von Karin Smirnoff
In „Wunderkind“ setzt sich Karin Smirnoff mit Manipulation und Machtmissbrauch auseinander – und ihr Roman schockiert, ohne zu skandalisieren.
In „Wunderkind“ stellt Katrin Smirnoff Brutalität und Banalität gleichberechtigt nebeneinander.
„Wunderkind“ von Karin Smirnoff ist unsere Buchempfehlung der Woche: Agnes ist ein „Wunderkind“: komponiert atemberaubende Sinfonien, spielt perfekt Klavier. Sie sieht die Welt mit einer Klarheit, als hätte sie bereits mehrere Leben gelebt, dabei ist allein dieses ein nackter Kampf ums Überleben. Zuneigung, Fürsorge, Liebe sind in ihrem Elternhaus Fremdwörter, und die blanke Boshaftigkeit ihrer Mutter treibt sie in die Verwahrlosung: eine Ratte ihr bester Freund, ein paar Brotkrumen ihre letzte Ration.
So findet Agnes in Frank Leide, einem Tennis- und Klavierlehrer, ihren Ziehvater und Talentförderer. Hingebungsvoll nimmt sich Leide neben Agnes noch weiterer Wunderkinder an, deren Förderung jedoch weniger selbstloser Güte entspringt als ein Einfallstor zur Befriedigung seiner pädophilen Triebe ist.
Der Roman schockiert, ohne zu skandalisieren
Karin Smirnoffs zweiter Roman schockiert – ohne zu skandalisieren. Mit der Gnadenlosigkeit kindlicher Beobachtungen nähert sie sich Machtmissbrauch und Manipulation und verzichtet dabei auf die hierarchisierende Einordnung von Kommas: Die Banalität steht unmittelbar neben der Brutalität. Obwohl Smirnoff den Blick in die Welt der Täter zulässt und nach Ursachen sucht, überlässt sie das Feld stets den Kindern und ihrer fantastisch schelmischen Sprache, in der sie Überlebensstrategien und Schutzmechanismen entwerfen. So findet sie Probleme in mitunter löchrigen Machtsystemen wie etwa den Sozialämtern, anstatt reaktionäre Todesstrafenfantasien zu befeuern.
Mit „Wunderkind“ hat es Karin Smirnoff auf unsere Liste der besten Bücher im Mai 2023 geschafft.