„Nachtfähre nach Tanger“ von Kevin Barry: Warten auf Dilly
Kevin Barry beweist mit „Nachtfähre nach Tanger“, warum er für seine melancholischen Losergeschichten als Sprachvirtuose gefeiert wird.
Kevin Barry legt mit „Nachtfähre nach Tanger“ den Nachfolger von „Dunkle Stadt Bohane“ vor: Maurice hat ein Matschauge und blickt seltsam irre. Charlie hat seit 1994 nicht mehr in den Spiegel geschaut. Die beiden ehemaligen Drogenschmuggler aus Cork sind zwar immer noch mit allen dreckigen Wassern gewaschen, aber mit Anfang 50 längst nicht mehr die wilden Hunde, die sie einmal waren. Am Fährterminal der südspanischen Hafenstadt Algeciras hat man da schon schlimmere Typen gesehen. Hier geht’s rüber nach Marokko, und hier warten die beiden auf Dilly, denn Maurice hängt das Herz schief: Seit Jahren hat er seine 23-jährige Tochter nicht mehr gesehen. Abgehauen ist sie, doch irgendwann wird sie hier auftauchen – so viel ist klar.
Sprach- und Wortvirtuose Kevin Barry ist bekannt für seine atmosphärisch-melancholischen Losergeschichten, die er im Original in irischem Gälisch verfasst. Er gibt den derben Späßen und dem versufften Geplänkel der beiden Harrenden einen sich hochschaukelnden Rhythmus: Barry lässt sie lallend treiben, bedrohlich wogen und rau toben, bevor er sie wieder in die regennasse Nacht entlässt. Bis dahin erahnt man durch Rückblenden, was hinter der ganzen Warterei steckt. Die Lesenden erfahren von Maurices Ehe mit Cynthia, dem Irrsinn des gemeinsamen Lebens, Betrug, einem tödlichen Sturz in die Tiefe und warum man in Malaga lieber keinen Oktopus essen sollte. Kevin Barry verneigt sich etwas vor Becketts „Warten auf Godot“, will aber nicht damit konkurrieren: Dilly wird schließlich auftauchen – nur um gleich wieder unbemerkt entkommen zu wollen. Sie hat ihre Gründe …
Mit „Nachtfähre nach Tanger“ hat es Kevin Barry auf unsere Liste der besten Krimis im Juni 2022 geschafft.