Mirko Bonné: „Rauschhaft, zehn Stunden am Tag“
Wo ist beim Schreiben der Unterschied zwischen einer Übersetzung, einem Gedicht und einem Roman? kulturnews sprach mit dem Schriftsteller Mirko Bonné über den Schreibprozess, über den Lockdown und die Überlebensstrategien der Menschen in seinem neuen Roman „Seeland Schneeland“.
Mirko Bonné, im Oktober erschien Ihre Neuübersetzung von Joseph Conrads Roman „Der Niemand von der ,Narcissus‘“. Jetzt erscheint Ihr Roman „Seeland Schneeland“, ein historischer Roman aus dem frühen 20. Jahrhundert. Wie ergänzen sich Übersetzung und eigene Kreativität? Immerhin gibt es einige Schnittstellen, am deutlichsten fällt die raue Natur der See auf.
Mirko Bonné: An „Seeland Schneeland“ habe ich in drei längeren Arbeitsschüben 15 Jahre lang geschrieben. Ich habe den Roman immer wieder beiseite gelegt, da mir einige Figuren und Entwicklungen nicht ausreichend klar waren. Das führte dazu, dass zahlreiche Lektüreeindrücke und -impulse in mein Buch einflossen. Eine Übersetzung ist ja genau das: die innigste Form der Lektüre. So sind meine Eindrücke von Erzählungen von Henry James, die ich vor Conrad übersetzte, ebenso Teil des Romanhintergrunds. Ich habe das große Glück, Erzähler, Dichter und Übersetzer zu sein. So kann ich stets an einem Strang meines Werkes weiterweben, wenn mir ein anderer gerade abhandenkommt.
Wales im Jahr 1921: Das ist drei Jahre nach dem ersten Weltkrieg und zwei Jahre nach dem Wüten der Spanischen Grippe. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Anfang 2020 erstmals Covid-19 in den Nachrichten auftauchte und sich kurz darauf auch bei uns ausbreitete?
Mirko Bonné: Als Mitte März 2020 so rasend schnell deutlich wurde, mit welcher Wucht das Corona-Virus auch Mitteleuropa treffen würde, waren meine Frau und ich gerade in Paris. Wir fuhren übers Saarland heim nach Hamburg. Ich werde diese gespenstische Stimmung nie vergessen. Erst nach und nach wurde mir bewusst, dass mein Roman eine ganz ähnliche gesellschaftliche Schocksituation spiegelt, wie sie ja die Spanische Grippe seinerzeit vor allem für Großbritannien und Irland darstellte. „Seeland Schneeland“ untersucht auf poetische Weise zwar Parallelen. Ich will aber mit meinem Buch keine Abschilderung von ähnlichem Leid vornehmen. Meine Figuren sehen sich vor eine übermächtige Natur gestellt und müssen Wege finden, um angesichts der kolossalen Bedrohung dennoch menschlich zu bleiben und am Miteinander festzuhalten.
„Seeland Schneeland“ leuchtet seine Charaktere genau aus und unterhält vor allem durch einen Humor in der Erzählung, der die Ereignisse nicht bagatellisiert, die sich zutragen, der sie aber einordnet in die Verhältnisse, in denen die Heldinnen und Helden des Romans leben. Eine solch stimmige Komposition gibt es heute nur noch selten. Ist sie von gestern?
Mirko Bonné: Mein Schreiben ist ein widerständiges. Ich wende mich bewusst gegen den seitens der Unterhaltungsindustrie ausgeübten Innovationszwang. Tolstoi, Camus oder Cheever kann ich nicht gestrig finden, im Gegenteil. Es gilt, der prächtigen Vielfalt der Welt literarisch Rechnung zu tragen. Es gilt eine sprachliche Brücke zu bauen, über die Leserinnen und Leser gehen mögen. Ich möchte den weiten Erzählbogen und das große Panorama ebenso wagen können wie eine Novelle oder ein Märchen, je nachdem, zu welcher Form mich meine Figuren anstiften.
Sie schreiben nicht nur Romane, sondern auch Gedichte. Wie trennen Sie das im Arbeitsprozess? Nach Gefühl oder ganz streng nach Stundenplan? Und überhaupt, wann gehen Sie die vielen Übersetzungen an?
Mirko Bonné: Ich übersetze, weil ich neugierig bin, auch darauf, wie sich mein Talent zu einem Buch verhält, das ich übertragen soll, und weil ich mit dem Übersetzen zu einem Gutteil mein Leben finanzieren kann, ohne mich verkaufen zu müssen. Gedichte schreibe ich nur selten und auch nur dann, wenn es sich nicht vermeiden lässt – es gibt Gedichtideen, die sich nicht verscheuchen lassen. Ein Gedicht zu schreiben, verlangt mir etwa so viel Energie ab wie 20 Seiten Prosa. Jedes gelungene Gedicht ist jedoch ein vielfach wertvollerer Trost. Ich schreibe an einem Roman völlig anders: rauschhaft, zehn Stunden am Tag, bestenfalls monatelang. Pausiere ich damit, kehren die Gedichte zurück wie am Abend die Krähen zu ihren Schlafbäumen.
Fast jede Familie in Ihrem Roman hat Angehörige an die Spanische Grippe verloren. Vom ersten Weltkrieg wollen wir gar nicht sprechen. Und doch bestimmen Liebeskummer und die Frage, ob letzterer die familieneigene Firma in Schräglage bringen könnte, die Handlung: Die Welt dreht sich weiter. Auf welche Auswirkungen der Katastrophen achten Sie beim Zeichnen der Charaktere?
Mirko Bonné: Es wäre absurd, anzunehmen, die Corona-Pandemie hätte die Liebe zwischen den Menschen verringert. Das Gegenteil dürfte der Fall sein. Und so war es mit Sicherheit auch vor hundert Jahren in den Zeiten der Spanischen Grippe. Mich interessieren in meinen Romanen die erfinderischen Strategien der Leute, mit Enttäuschung, Trauer, Verlust oder Verhängnis fertigzuwerden. Ich erforsche das menschliche Dennoch, das uns an Liebe, Freundschaft, Zusammenhalt festhalten lässt – und frage mich, wieso das dem oder der Einen gelingt, anderen dagegen nicht.
Werden wir ab Sommer ähnlich durchatmend in die Zukunft schauen wie die Familie Blackboro und Covid-19 ein historisches Ereignis sein lassen?
Mirko Bonné: Ich will das gern glauben, bin aber skeptisch. Die Erleichterung und Freude über das Ende der Pandemie wird immens sein und ein neues Lebensgefühl zur Folge haben. Doch ähnlich wie seinerzeit und bis heute in der queeren Community durch Aids wird wohl ein Trauma Bestand haben, das alle Lebensbereiche latent verunsichern dürfte. Die Blackboros in „Seeland Schneeland“ besinnen sich nicht ohne Widerstände auf das Beste, wozu sie imstande sind: den Austausch, das Füreinander-Einstehen und den Glauben, dass jede und jeder befähigt ist, einen Weg für sich zu finden.
Hat Covid-19 Ihre persönliche Einstellung zum Leben verändert?
Mirko Bonné: Und ob. Die Brüchigkeit der Zusammenhänge ist offen zu Tage getreten. Ich war und bin erschüttert von den Beschreier*innen der Ignoranz ausgerechnet Schwächeren, Alten und Kindern gegenüber. Gerade von den Kleinen können wir in diesen Zeiten so unendlich viel über Zuversicht und spielerischen Umgang selbst mit Unfreiheiten lernen. Da ich Dichter bin, sehe ich die Welt als poetisches Gefüge. Die Corona-Pandemie ist wie die Klimakrise, mit der sie eng zusammenhängt, in meinen Augen eine Warnung seitens der Natur, somit jedoch ebenso ein Gesprächsangebot.
Was planen Sie für den Zeitpunkt, da alle Beschränkungen aufgehoben sein werden? Eine große Reise? Eine Party?
Mirko Bonné: Meine Frau und ich warten sehnlichst auf die erstbeste Möglichkeit, nach Südfrankreich zu reisen, wo wir unter lieben Leuten, mit unseren Kindern die Sommer verbringen. Ich vermisse besonders das Zusammensitzen mit Freunden. Kino. Lesungen. Theater. Die Konzerte meiner Lieblingsbands. Alles das wird wiederkommen, wenn auch vielleicht anders, und ich werde es ebenso anders wertschätzen.
Interview: Jürgen Wittner
Mit „Seeland Schneeland“ hat es Mirko Bonné auf unsere Liste der besten Bücher im Februar 2021 geschafft.