Klassefilm über Klassenkampf
Bong Joon-hos Thrillerkomödie gewann als erster fremdsprachiger Film den Oscar als bester Film. Nun ist das Meisterwerk exklusiv bei Amazon Prime zu sehen.
„Parasite“ von Bong Joon-ho gewann als erster südkoreanischer Film bei den Filmfestspielen von Cannes die Goldenen Palme. Und, eine echte Sensation, als erster fremsprachiger Film überhaupt sackte er dieses Jahr den Oscar als bester Film ein, wofür es sogar von höchster – oder moralisch betrachtet niedrigster Stelle – Kritik gab: US-Präsident Donald Trump äußerte diese. (Den Oscar für den besten fremdprachigen Film gab es übrigens noch obendrein). Sogar eine Serie zu Parasite ist in Arbeit.
Parasite: Prekäres Leben der Unterschicht
Der vielfach ausgezeichnete Film beginnt als vermeintlich zugespitzte Milieubeschreibung. Die vier Mitglieder der Familie Kim – Vater, Mutter, Sohn und Tochter – leben gemeinsam in einer viel zu kleinen, heruntergekommenen Untergeschosswohnung. Zunächst reiht der Film exemplarische Situationen aneinander, die den niedrigen Lebensstandard und den daraus resultierenden täglichen Überlebenskampf illustrieren: Als Nebenverdienst falten die Kims Pizzakartons, über den Boden kriechen Schaben, und weil sie sich kein WLAN leisten können, erschnorren sie sich das WiFi-Signal des Nachbargeschäfts, müssen dafür aber zusammengekrümmt in einer Ecke des Badezimmers sitzen. Bong etabliert trotz des Sozialrealismus suggerierenden Looks ein hohes Tempo und schlägt einen beinahe schon slapstickhaften, situationskomischen Ton an – einen Ton, der aber immer auch einen tragischen Kern hat und verhindert, dass die Figuren und ihre prekären Lebensumstände der Lächerlichkeit preisgegeben werden.
Der rettende Impuls kommt schließlich von einem alten Schulfreund von Sohn Gi-u (Choi Woo-shik): Dieser Freund ist bei der reichen Familie Park als Englisch-Nachhilfelehrer für deren Tochter angestellt und schlägt Gi-u vor, ihn während einer längeren Abwesenheit zu vertreten. Dank eines rasch gefälschten Diploms und den richtigen Stichworten wird Gi-u von Frau Park (Cho Yeo-jeong) freundlich in ihrem Anwesen empfangen. Es dauert nicht lange, bis er sich vom luxuriösen Lebensstil der Parks derart angezogen fühlt, dass er ihnen kurzerhand auch seine Freundin Jessica als Kunsttherapeutin für den jüngeren Sohn aufschwatzt. Nur dass diese gar nicht existiert und er dafür seine Schwester Gi-jeong (Park So-dam) vorschickt. Und auch sie richtet sich schnell in ihrer Rolle ein …
Gesellschaftskritik im Genrekino-Gewand
Ab dieser Stelle soll laut Bong besser nichts mehr verraten werden – und in der Tat reiht sich von hier an Wendung an Wendung, ohne dass diese jemals Selbstzweck wären. Mit „Parasite“ führt der Regisseur zum vorläufigen Höhepunkt, was er in seinen vorherigen Filmen schon auf verschiedene Arten durchdekliniert hat: Gesellschaftskritik im Genrekino-Gewand, in dem scheinbar spielend die unterschiedlichsten Tonalitäten ihren Platz finden. In „Memories of Murder“ (2003), der Film, mit dem Bong seinen Durchbruch feierte, verknüpfte er eine Serienkillergeschichte mit einer Reflexion über die südkoreanische Militärdiktatur in den 80ern und ihre Auswirkungen. Der Nachfolger „The Host“ (2006) verband politische Bestandsaufnahme, Familienkomödie und klassischen Monsterfilm – und ließ sich, genau wie die Mutter/Sohn-Tragödie „Mother“ (2009), auch als Allegorie auf das geteilte Korea lesen. Mit dem Endzeit-Actionfilm „Snowpiercer“ (2013) drehte Bong dann erstmals in englischer Sprache und entwarf in der Dimension eines Blockbusters eine Zweiklassengesellschaft in einem Hochgeschwindigkeitszug.
Bong Joon-hos großer Wurf
Sein bisher letzter Film „Okja“, eine Netflix-Produktion, ging das Risiko eines „E.T.“ für Erwachsene ein, die die Grellheit des asiatischen Genrekinos mit Hollywoodsentiment und einem Plädoyer gegen Tierleid zusammenbrachte. Und erstmals stolperte Bong dabei über seinen Stilspagat. Vor diesem Hintergrund ist „Parasite“ erst recht der große Wurf: Bong konstruiert ein Home-Invasion-Szenario, das uns in die Perspektive der Eindringlinge drängt. Und, so viel sei doch verraten: Es kommen noch weitere Figuren hinzu, die es Bong nicht nur erlauben, klug von Klassenverhältnissen zu erzählen, sondern auch hochgradig ambivalent von der Verführbarkeit durch Machtstellungen, indem er die Hierarchien immer wieder verschiebt. Ein Klassenkampf im Kammerspiel-Format, der sich von der Sozialkomödie zum verstörenden Thriller entwickelt – und es spätestens am Schluss sogar noch schafft, tief zu berühren. msb
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