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Richter Gnadenlos

Buchcover „Wie alles begann und wer dabei umkam“ von Simon Urban

In „Wie alles begann und wer dabei umkam“ erzählt Simon Urban von einem reaktionären, selbstgerechten und empathielosen Juristen.

Hartmann heißt der „Held“ in Simon Urbans neuem Roman „Wie alles begann und wer dabei umkam“. Einen Vornamen hat er nicht, wohl aber kann man zu Recht von der Wahl des Nachnamens durch Schöpfer Urban auf den Charakter des Protagonisten schließen. Der Mann ist ein Hardliner der ganz besonderen Sorte, er hält die Gerichtsurteile in Deutschland vor allem in der Strafprozessordnung für zu niedrig, und er möchte, dass bereits rechtskräftig gewordene Gerichtsbeschlüsse die Verfahren nicht nur zum Wohle der Verurteilten wieder aufgenommen werden können, sondern gerade auch zu ihrem Nachteil.

Bisher hat Simon Urban mit seinen Romanen „Plan D“ und „Gondwana“ bewiesen, dass er gleichermaßen eine alternative Gegenwart wie auch einen Science-Fiction-Krimi aus dem Ärmel schütteln kann. Jetzt lässt er seinen Helden fantasieren – und das macht einen als Leser etwas ratlos. Denn Hartmann hat nichts anderes im Sinn, als ein „Inoffizielles Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland“ zu schreiben und das dann in die ganze Welt exportieren. Aber warum? Was ist der Mehrwert eines 550-Seiters, in dem ein reaktionärer, selbstgerechter und empathieloser Jura-Student zuerst die Justiz revolutionieren will und dann zur Selbstjustiz greift, bis er selbst zum Tode verurteilt wird? Die Antwort auf diese Frage bleibt Simon Urban schuldig. Doch die Leerstelle fällt erst in der zweiten Hälfte des Romans auf.

Schon mit elf Jahren will der Protagonist von Simon Urban seine Oma zum Tod verurteilen

Der Anfang des Buchs ist ganz klar der komischere Teil. Schon mit elf Jahren will Hartmann seine Oma zum Tod verurteilen, weil sie mit ihrer täglichen Schikane der Tochter „wortwörtlich das Leben nehme“. Das hat Fallhöhe, die Komik entstehen lässt. Auch die Schilderung der Kindheit in Stuttgart, die ersten sozialen Kontakte in der Nachbarschaft, die Liebe zu den drei Weber-Schwestern: Das bringt Abwechslung zur Schilderung, wie Hartmanns Mutter von der Großmutter mit aller Fantasie tyrannisiert wird. So wird die Geschichte weit mehr als nur eine psychologische Herleitung von Hartmanns Werdegang, nämlich eine Coming-of-Age-Erzählung mit vielen Seitenwegen und Ausfransungen. Natürlich gibt es die auch im Leben des erwachsenen Hartmann. Sein Sexleben wird von ihm selbst durchaus schonungslos geschildert. Auch sein brutal-ehrlicher Umgang in der Freundschaft mit der Kommilitonin Sandra. Doch obwohl gerade Sandra im Lauf der Geschichte immer wichtiger wird – sie spricht ihm alle Rechte ab, Selbstjustiz zu üben, und fällt ganz am Ende ein vernichtendes Urteil über Hartmanns Selbstgerechtigkeit –, verlässt man den Roman am Ende ratlos.

Was soll der juristische Amoklauf?

Wozu das alles? Eine zufriedenstellende Einbettung von Hartmanns juristischem Amoklauf in Theorie und Praxis in die Geschichte der Bundesrepublik der 1990er-Jahre findet nach Meinung eines Jura-Laien nicht statt. Vielleicht müsste man mal Juli Zeh fragen. Die ist Juristin und hat über Urbans Roman „Plan D“ geschrieben: „Das ist ein Text mit Muskeln“.

 

Mit „Wie alles begann und wer dabei umkam“ hat es Simon Urban auf unsere Liste der besten Bücher im März 2021 geschafft.

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