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„Golden Years“ von Tocotronic: Leben ist silber, Sterben ist gold

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(Foto: Noel Richter)

Auf dem neuen Album von Tocotronic geht es um letzte Ungewissheiten. Und um einen Kuss für Alice Weidel.

Mit „Mein Ruin“ haben sie die Wirtschaftskrise vorausgesehen, „Hoffnung“ hat vielen durch die Corona-Krise geholfen, und natürlich war „Nie wieder Krieg“ auch das große Statement zu Russlands Angriff auf die Ukraine. Als Umfragen im Sommer 2023 verkündet haben, die AfD könnte bei der kommenden Bundestagswahl um die 20 Prozent der Stimmen holen, hat sich Dirk von Lowtzow hingesetzt und den Protestsong „Denn sie wissen, was sie tun“ geschrieben – und wenn Alice Weidel jetzt mit Hassreden auf Wahlkampftour ist, brauchen wir diese Hymne dringend, um nicht zu resignieren und im Widerstandsmodus zu bleiben. „Sie leben völlig selbstverständlich Terror als Identität“, heißt es in der Vorabsingle. Und eben auch: „Darum muss man sie bekämpfen, aber niemals mit Gewalt/Wenn wir sie auf die Münder küssen, machen wir sie schneller kalt“.

Doch repräsentativ für das vielsinnige 14. Album ist die Direktheit der Single nicht unbedingt. Tocotronic durchleuchten mit „Golden Years“ unsere finstere Gegenwart, und musikalisch klingen die stark an Folk und auch Country orientierten neuen Songs tatsächlich so unbeschwert, als wollten sie ein Hoffnungsschimmer am Ende eines langen Tunnels sein. Wären da nur nicht die Texte. Zwar heißt der Opener „Der Tod ist nur ein Traum“ – doch was nützt das, wenn der Erzähler von sich selbst sagt, man könne ihm „fast vertrauen“? So thematisiert „Mein unfreiwillig asoziales Jahr“ die Apathie in bewegungslosen Zeiten, „Niedrig“ beschreibt eine Depression, und in „Vergiss die Finsternis“ ruft von Lowtzow zwar aus: „Finsternis ist Mist!“. Nur geht es dann leider noch weiter: „Dennoch ist sie alles, was ist.“

Wie üblich wimmelt die Platte vor Zitaten und Bezügen. Das autobiografische „Wie ich mir selbst entkam“ spielt auf Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“ an, und natürlich hat der Albumtitel jenen Song von David Bowie im Sinn, den er vor ziemlich genau 50 Jahren geschrieben hat, kurz bevor er schwer drogenabhängig von L.A. nach Berlin gezogen ist. Doch während Bowie tatsächlich in Erwartung glorreicher Zeiten getextet hat, setzen von Lowtzows „Golden Years“ mit einem Auftritt auf der Freilichtbühne Recklinghausen ein. Nach einer Nacht mit Schlaftablette im Motel One geht es dann im Frühzug heim. Und die Hoffnung? Vielleicht liegt die ja im vermeintlichen Boomer-Sprech-Aufgriff: „Aber man muss dankbar sein, wenn man den Leuten noch begegnet, nicht nur als Klick auf Spotify.“

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