„Did you know that there’s a Tunnel under Ocean Blvd” von Lana Del Rey: Endlichkeit, Gott und Selbstbestimmung
Erbarmungslose Poesie: Findet Lana Del Rey mit „Did you know that there’s a Tunnel under Ocean Blvd“ wieder zurück ins Leben?
Dass Lana Del Rey mit „Did you know that there’s a Tunnel under Ocean Blvd” nicht den Soundtrack des bevorstehenden Sommers abliefern würde, war sowieso klar. Doch die neunte Platte der 37-Jährigen verlangt selbst den hartgesottenen Fans einiges ab: Zwar ist die 77-minütige Reise durch düsteren Morast, tiefe Abgründe und bitteren Schmerz kein wunderbares Popabenteuer – doch Lana weiß: Am Ende des Tunnels wartet das Licht.
„Did you know that there’s a Tunnel under Ocean Blvd” von Lana Del Rey
Bis weit in die 60er-Jahre erleichterte ein Tunnel unter L.A. den Weg zum Strand in Long Beach. Heute ist der unterirdische Badezugang gesperrt und längst vergessen – eine Angst, die Lana auf ihrem neuen Album umtreibt. „Did you know that there’s a Tunnel under Ocean Blvd” zerrt uns in jene einsamen Orte des Vergessens, in geschlossene Psychiatrien und Mausoleen in Rhode Island – dabei beginnt das Album mit einer so hoffnungsvollen Gospelnummer („The Grants“). Doch muss das ein Widerspruch sein? Schließlich ist der Glaube an Gott und an das Leben nach dem Tod der einzige Ausweg aus dieser verdammten Vergänglichkeit.
Überhaupt spielen Gott und die Endlichkeit („Fingertips“/„Kintsugi“) eine unerwartet prominente Rolle, was nicht zuletzt an jüngsten Todesfällen in Lanas engstem Umfeld liegen wird. So predigt etwa der Pastor und Autor Judah Smith in einem Interlude, woraufhin Lana mit einer Bibel im Schoß ihren eigenen Selbstmord durchspielt („Necklace“). Doch, dass Gott bei all dem weltlichen Wahnsinn die einzige Antwort sein kann, bezweifelt selbst Smith, der das Interlude mit einer eher psychologischen Erkenntnis schließt: „And you’re not gonna like this, but I’m gonna to tell You the truth/I’ve discovered my preaching is mostly about me“.
Brachial ehrliche Poesie
Und genau darum geht es Lana auf ihrem Album: sich selbst und den Glauben an sich selbst wiederzufinden. Ein schwieriges Unterfangen zwischen amerikanischer Rapeculture („A&W“), toxischem Sex (Titelsong), mentalem Missbrauch („Fishtail“) und Psychopharmaka („Fingertips“). Da wirkt es schon beinahe ironisch, wenn sie ihrem Bruder befiehlt, mit dem Rauchen aufzuhören. Doch für Lana ist inzwischen jede Sekunde wertvoll, denn alles geht vorbei: „Gave myself two seconds to cry/It’s a shame that we die“.
Nach elf reduzierten Songs, die vom Piano begleitet vor allem Lanas brachial ehrlicher Poesie den Raum haben einnehmen lassen, bricht die Erlösung durch die Wolkendecke: Lana kriecht aus dem Tunnel und findet gemeinsam mit Father John Misty zurück ins Licht der selbstbestimmten Liebe („Let the Light in“) und brüllt mit Tommy Genesis leicht manisch „I’m in love, I’m in love“ („Peppers“). Lanas Herz öffnet sich im letzten Viertel der Platte, und die Beats, die Rhythmen finden wieder zurück. Wer diese 77 Minuten völligen Gefühlsexzess heil übersteht, der braucht auch keinen Gott mehr – einzig den Repeatknopf.