„Candy Haus“ von Jennifer Egan: Zurück zur Welt
Mehr als zehn Jahre nach „Der größere Teil der Welt“ legt Jennifer Egan die Fortsetzung „Candy Haus“ vor – und es ist, als wäre keine Zeit vergangen.
Mit „Der größere Teil der Welt“ hat Jennifer Egan im Jahr 2010 den Pulitzer gewonnen und der internationalen Kritik den Kopf verdreht: postmodern, aber nie prätentiös, bewegend, aber nie kitschig, fantasievoll, aber nie abgehoben. In „Candy Haus“ kehrt Jennifer Egan nun mehr als ein Jahrzehnt später zu denselben Figuren zurück, und zunächst regen sich Zweifel: Warum ein so riskantes Vorhaben, an dem schon Meister wie David Mitchell gescheitert sind? Sind der US-Amerikanerin schlicht die Ideen ausgegangen? Aber Egans Werk ist auf eine Art ungewöhnlich, die ein Anknüpfen nicht nur verzeihlich, sondern fast logisch wirken lässt. „Der größere Teil der Welt“ besteht aus 13 ursprünglich separat konzipierten Geschichten, die zwar alle miteinander verbunden sind, aber auch allein funktionierten. Diesen Fundus zu erweitern, ist also eine leichte Übung.
Auch „Candy Haus“ besteht aus 13 Geschichten, erneut aus 13 verschiedenen Perspektiven und in den unterschiedlichsten Formaten erzählt. Es gibt zahlreiche Wiedersehen mit alten Bekannten, wenn auch Musikproduzent Bennie Salazar und seine kleptomanische Assistentin Sasha, die Hauptfiguren des Vorgängers, nur indirekt in Erscheinung treten. Anfangs kostet es kurz Überwindung, die vielen Zufälle zu schlucken, mit denen Egan ihre Protagonist:innen immer wieder übereinander stolpern lässt – doch dies ist ein geringer Preis für den Schatz an Geschichten, den die Autorin vor uns ausbreitet.
Da ist Sashas College-Freund Bix, ein Techno-Gigant, der eine Methode erfunden hat, seine Erinnerungen im Internet hochzuladen. Sashas Sohn Lincoln arbeitet für Bix’ Unternehmen, während Bennies Sohn Chris klammheimlich daran arbeitet, Menschen vor der allgegenwärtigen – meist freiwillig in Kauf genommenen – Überwachung zu retten. Sashas Onkel Ted hat neu geheiratet und drei Söhne, die alle auf ihre Art gegen die Absurdität der Welt kämpfen. Wir treffen Bennies Exfrau Stephanie genauso wieder wie seinen alten Mentor Lou Kline und dessen zahlreiche Kinder. Wie beim letzten Mal springt Egan dabei wild in der Zeit umher: „Der größere Teil der Welt“ ist mit einem Blick in die Zukunft geendet, und „Candy Haus“ bildet detailgetreu die von Bix geschaffene Gesellschaft ab, in der das gesamte Bewusstsein digitalisiert werden kann – um im nächsten Kapitel Lou Klines Eskapaden in den 60ern zu schildern.
Wieder geht es bei Jennifer Egan um das unaufhaltsame Vergehen der Zeit, doch bei „Candy Haus“ stehen die Sorgen um soziale Medien und Regierungskontrolle stärker im Fokus.
Was im Detail passiert, interessiert Egan dabei weniger als ihre Figuren, die sie bei aller Komplexität mit unendlicher Wärme behandelt. Das zentrale Thema von „Der größere Teil der Welt“ ist das unaufhaltsame Vergehen der Zeit – und auch „Candy Haus“ handelt im Grunde davon, auch wenn Sorgen um soziale Medien und Regierungskontrolle stärker im Fokus stehen. Doch für Kategorien wie Utopie oder Dystopie ist der Roman zu erwachsen: Immer wieder macht das Narrativ klar, dass nichts wirklich endet, bis es endet. Egan sorgt in praktisch jedem Kapitel für Gänsehautmomente – wenn sie uns nicht gerade zum Schmunzeln bringt. Bei aller Menschlichkeit ist sie sich aber auch für waghalsige Experimente nicht zu schade: Ein Kapitel ist in der zweiten Person geschrieben, eines pfriemelt die Tochter aus den digitalen Erinnerungen ihres Vaters zusammen, wieder eines besteht nur aus E-Mails.
Vermutlich ist die Annahme schlicht falsch, es müsse für Egan eine leichte Übung gewesen sein, diese Fortsetzung zu verfassen. Es kann nicht einfach gewesen sein, so viel Klugheit, Spaß und Trauer in 400 Seiten zu packen, nicht einmal für Jennifer Egan. Aber sie kann es so wirken lassen, als ob – und das ist vielleicht die größte Kunst von allen.