„Der Anfang von morgen“ von Jens Liljestrand: Jens und die Brandstifter
Der ungemein spannende Roman „Der Anfang von morgen“ von Jens Liljestrand ist eine Challenge: Um im Kampf gegen den Klimawandel noch eine Chance zu haben, müssen wir seine Protagonist:innen ertragen.
Wenn es schlecht läuft, setzt der Plot von „Der Anfang von morgen“ schon morgen ein, vielleicht sind wir aber auch noch ein paar Monate von der dystopischen Zukunftsvision von Jens Liljestrand entfernt: Nachdem die Pandemie die Menschen in ihren Grundfesten erschüttert hat, schreitet der Klimawandel mit großen Schritten voran. In Schweden brennen die Wälder. Die Menschen müssen fliehen und versuchen, irgendwie nach Stockholm zu kommen. Doch in der unerträglichen Hitze ist Wasser knapp, immer wieder fällt der Strom aus, und während der Zugverkehr zusammenbricht und die Straßen verstopfen, kommt es in der Hauptstadt zu Unruhen und Plünderungen.
„Der Anfang von Morgen“ beginnt in klassischer Pageturner-Manier: Didrik, seine Frau Carola und die drei Kinder müssen ihr Ferienhaus panikartig verlassen und vor den Flammen fliehen. Doch das Auto springt nicht an, sie müssen zu Fuß gehen, und nach und nach verlieren sie sich in dem immer größer werdenden Chaos. Für die gut situierte Familie eine unbekannte Situation, denn bislang waren sie es gewohnt, sich mit materiellen Gütern gegen die Folgen der ökologischen Katastrophe abzuschirmen. So war auch die Zeit nach der Geburt ihres dritten Kindes genau geplant: Eigentlich sollte es vom Ferienhaus direkt in den Traumurlaub nach Thailand gehen. Natürlich sind die Geburt eines dritten Kindes und auch die Flugreise nicht gerade vorteilhaft für den ökologischen Fußabdruck, doch dieses kleine bisschen Glück haben sie sich nun wirklich mal verdient. Mit dem staatlichen Elterngeld in Schweden ist das schon zu stemmen, und das Haus in Stockholm können sie in dieser Zeit ja untervermieten.
Der Roman macht es den Lesenden nicht leicht
Jens Liljestrand macht es sich und den Lesenden nicht leicht, denn er erzählt die dramatischen Ereignisse nacheinander aus der Perspektive von vier Unsympathen. Zunächst berichtet Didrik, wie es ihm gelingt, zumindest mit der kleinen Becka nach Stockholm zu kommen. Hier findet er Unterschlupf bei seiner ehemaligen Geliebten, und fortan ist es jene Melissa, die ihre Sicht der Dinge schildert. Da die tablettenabhängige Influencerin dank der Waldbrände mit ihren realitätsverweigernden Posts mehr Geld als je zuvor verdient, hat sie sich in der Rolle der egomanen Klimaleugnerin eingerichtet:
„Mein Lieblingscafé ist so gut wie leer, die Leute bleiben zu Hause, anscheinend gab es Krawalle heute Nacht, dreiundzwanzig Tote nach Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten in einem Vorort, heißt es im Newsflash, oder waren es dreiundzwanzig Verletzte oder Verhaftete, ich hab nur vorbeigescrollt. Die Straßen sind ebenso ausgestorben wie zu Corona-Zeiten, damals habe ich die Hysterie auch nicht verstanden.“
Melissa hütet die Luxuswohnung des ehemaligen Tennisstars Anders Hell ein, und es ist dessen Teenagersohn André, auf den Liljestrand nun den Fokus richtet. Der übergewichtige, einsame 19-Jährige, der in einer Wohlstandsblase ohne Liebe aufgewachsen ist, trifft während eines Segeltörns auf Klimaaktivisten, doch so sensibilisiert er auch für ökologische und soziale Probleme ist, geht es für ihn doch vor allem um die lebenslang ersehnte Anerkennung seines Vaters. Und zum Abschluss kommt schließlich Didriks 14-jährige Tochter Vilja zu Wort, der Liljestrand im Schärengarten um Stockholm eine Wandlung zugesteht, nachdem sie zunächst nur immer wieder ihr Handy zückt, um zu checken, welche Neuheiten in ihrem Lieblingsvintageladen eingetroffen sind.
„Der Anfang von morgen“ von Jens Liljestrand ist eine Mahnung zur Empathie, die so dringend nötig ist
So spannend und gegenwartssatt Jens Liljestrand von der drohenden Katastrophe berichtet, liegt die Meisterleistung des Autors, Kulturjournalisten und Literaturkritikers doch vor allem in der Wahl seiner Antihelden. Ihre selbstsüchtigen und verlogenen Offenbarungen funktionieren als Brennglas für die Probleme, mit denen wir in ganz naher Zukunft konfrontiert sein werden. Mit sensiblen Psychogrammen gelingt es Liljestrand, die Haltungen von Didrik, André, Vilja und sogar Melissa nachvollziehbar zu machen. Sie sind eine Mahnung zur Empathie, die so dringend nötig ist, um sich gemeinsam dem Klimawandel zu stellen. Und so ist es ausgerechnet der 19-jährige André, der diese Botschaft auf den Punkt bringt:
„Wir müssen ihnen klarmachen, dass das Schlimmste nicht das sein wird, was die Natur mit uns macht. Das Schlimmste wird sein, was wir einander antun.“