„Der große Fehler“ von Jonathan Lee: Englishman in New York
Ein historischer Roman über einen vergessenen Helden der US-Metropole? Ausgerechnet der Brite Jonathan Lee nimmt sich dieser Aufgabe an – und legt mit „Der große Fehler“ eines der spektakulärsten Bücher des Frühjahrs vor.
Bei einem Spaziergang im Central Park stößt Jonathan Lee zufällig auf eine Marmorbank, in die ein Name und eine Widmung eingraviert sind. Etliche Wörter sind von Taubenscheiße verdeckt, und doch kann Lee die Aufschrift entziffern: „Zu Ehren von Andrew Haswell Green / Dem Schöpfergeist des Central Park in seinen frühen Jahren / Vater von Greater New York“. Obwohl der in London aufgewachsene Lee bereits seit einigen Jahren in der US-Metropole lebt, wo er für einen Verlag arbeitet und sowohl Romane als auch Drehbücher schreibt, hat er nie zuvor von jenem Andrew Haswell Green gehört
Er beginnt zu recherchieren und findet heraus, dass dem Anwalt und Stadtplaner nicht nur der Central Park, die New York Public Library und das Metropolitan Museum of Art zu verdanken sind, sondern er auch maßgeblich an dem Zusammenschluss von Manhattan und Brooklyn zu einer einzigen Stadt beteiligt gewesen ist. Zudem sind die Umstände seines Todes mysteriös: Im Alter von 83 Jahren wird Green am 13. November 1903 vor seinem Haus erschossen. Der Mörder kann festgenommen werden, doch bleiben die Motive für dessen Tat lange Zeit unklar.
Jonathan Lee hat intensive Nachforschungen angestellt, in der Historical Society Library durfte er die unveröffentlichten Tagebücher und Briefe von Andrew Haswell Green lesen – und acht Jahre nach seinem Spaziergang war der Roman fertig. In „Der große Fehler“ hält er sich an die historischen Tatsachen, und wenn er Nebenfiguren wie etwa Inspektor McClusky oder Greens Haushälterin Mrs. Bray fiktional ausgestaltet, so entspringen diese Charaktere zumindest den Fußnoten offizieller Dokumente.
Doch wenn Lee immer wieder mit Zeitsprüngen arbeitet, aus wechselnden Perspektiven erzählt und die einzelnen Kapitel mit den Namen der verschiedenen Eingänge des Central Park überschreibt, ist es gar nicht so sehr der Kriminalfall, der seinen Roman so ungemein spannend macht. Mit detaillierten Beschreibungen und sinnlicher Sprache macht er das New York jener Zeit fühlbar, und vor allem zeichnet er ein tiefenscharfes Psychogramm seines tragischen Helden.
In „Der große Fehler“ zeichnet Jonathan Lee einen Helden, der für seine Arbeit gelebt hat, der so viel für New York geleistet hat – und der seine Liebe nie leben konnte
Green wächst als siebtes von elf Kindern auf einer Farm in Massachusetts auf, die schon bessere Zeiten gesehen hat. Früh erregt der schmächtige Junge durch seinen Ordnungssinn das Misstrauen des Vaters, und als Green bei dem missglückten Versuch beobachtet wird, seinen besten und einzigen Freund zu küssen, schickt man ihn zur Lehre in einem Gemischtwarenladen in New York.
Als eines Tages der junge Anwalt Samuel Tilden in dem Geschäft auftaucht, kann Green sich aus den ärmlichen Lebensumständen befreien: Tilden wird zu Greens Mentor, er nimmt ihn mit in die Bibliothek und führt ihn in die Welt der Bücher ein. Doch aus Angst vor Gerüchten und Gerede beendet Tilden diese intensive Freundschaft von einem auf den anderen Tag, und auch als sie Jahre später wieder zusammenfinden und gemeinsam so bahnbrechende Projekte wie die Gründung einer für jedermann zugänglichen Bibliothek auf den Weg bringen, geben sie ihrer gegenseitigen Zuneigung nie nach, um ihr Wirken zur Verbesserung der Gesellschaft nicht zu gefährden.
„Konnte unsere private Einsamkeit, konnten uns unsere schlimmsten Ängste nicht vorandrängen, hinaus, zum größeren, gesellschaftlichen Besseren? Zum Bau von Brücken, öffentlichen Räumen, sicheren Orten, an denen sich andere womöglich weniger einsam fühlen?“ (aus: „Der große Fehler“)
Jonathan Lee zeichnet einen Helden, der für seine Arbeit gelebt hat, der so viel für New York geleistet hat – und der seine Liebe nie leben konnte. „Der Protagonist von ,Der große Fehler’ war der Meinung, dass wir in einer Welt leben, die manchmal zu unserem Nachteil vom Individuum gegenüber dem Kollektiv, vom privaten gegenüber dem öffentlichen Interesse, vom Egoisten gegenüber dem Selbstlosen, vom Kurzfristigen gegenüber dem Langfristigen besessen ist“, sagt Jonathan Lee. Mit seinem Roman verneigt er sich vor einer Figur, die gegen diese Philosophie arbeitet, die von Donald Trump, Boris Johnson und Vladimir Putin vertreten wird.