Julia Rothenburg: Aber hier leben?
Um vom urbanen Existenzkampf zu erzählen, zieht Julia Rothenburg mit ihrem Roman in den wohl hässlichsten Betonklotz Berlins.
Julia Rothenburg, ein bisschen habe ich mich bei der Lektüre von deinem Roman „Mond über Beton“ ertappt gefühlt. Wenn ich in den vergangenen Jahren beim Berlin-Besuch in der Gegend vom Kottbusser Tor unterwegs gewesen bin, etwa in der Flittchen-Bar im Südpol, in der Möbel Olfe oder im Café Kotti, dann war da im Hinterkopf schon auch ein bisschen die Klischee-Vorstellung vom derben Kreuzberger Kiez.
Julia Rothenburg: Das wird ja auch gern in Reiseführer hervorgehoben: Hier kann man so richtig was erleben. Ich wollte das schon ein bisschen überzogen aufnehmen und widerspiegeln, damit die Leser*innen auch merken, was das eigentlich bedeutet, wenn so etwas über eine Gegend erzählt wird.
Wie bist du denn zum Kotti gekommen? Wann wurde deine Beziehung zu diesem Gebäude namens Neues Zentrum Kreuzberg so intensiv, dass es mit dir gesprochen hat und jetzt in deinem Roman sogar als Figur auftritt?
Julia Rothenburg: Ich bin in Kreuzberg aufgewachsen, allerdings in der Gegend um den Südstern. So richtig ging meine Beschäftigung erst los, als ich nach dem Studium in Freiburg in die Nähe vom Kotti gezogen bin. In der Zeit gab es viele Zeitungsartikel über diesen Ort als Drogenumschlagsplatz und Kriminalitätsbrennpunkt – und immer hat in dieser Berichterstattung auch das Haus eine große Rolle gespielt. Ich wollte wissen, wie die Wahrnehmung und der Ruf des Platzes zustande kommen und wie dieses Haus mit dem Platz in Interaktion steht.
Neben dem Gebäude kommen vor allem einige Bewohner des NKZ zu Wort, etwa die verarmte und einsame Rentnerin Stanca aus Rumänien oder der Gemüsehändler Mutlu und seine elf und zwölf Jahre alten Söhne, die bereits als Drogenkuriere rekrutiert werden. Wie ist es dir gelungen, diese Figuren sprechen zu lassen, ohne dass sie zu Schablonen werden oder du auf sie herabschaust?
Julia Rothenburg: Mir war wichtig: Wenn ich über den Ort schreibe, möchte ich kein möglichst repräsentatives Bild dieses Platzes zeichnen. Ganz bewusst habe ich keine Interviews geführt und die Figuren auf dieser Grundlage erschaffen. Ich wollte die Charaktere plastisch machen, sodass sie nicht für ein bestimmtes Thema stehen. Der türkische Gemüsehändler Mutlu ist ja nicht nur Gewerbetreibender an diesem Platz, sondern auch ein alleinerziehender Vater, der nach einem schweren Schicksalsschlag in einer Depression gefangen ist. Und es war mir wichtig, dass die Figuren auch zwischen den Seiten ein Leben haben, das nicht dargestellt wird.
Ziemlich schlecht weg kommen Marianne und Günther, zwei Altlinke, die sich im NZK ganz gut eingerichtet haben. Auch das Haus selbst spricht da von einem Protest, der im System aufgegangen ist.
Julia Rothenburg: Ich wollte schon zeigen, dass sie ganz eigentlich als Gewinner aus dem Text gehen. Verglichen mit den anderen hat der Protest für sie keine existenzielle Wucht, es geht eher um ein Anknüpfen an alte Zeiten. Wobei ich sie auch gar nicht so sehr auflaufen lassen wollte. Sie versuchen ja, nicht ganz im Kapitalismus aufzugehen und auf ihre Art auch die Themen am Platz anzusprechen. Nur stoßen sie da eben an ihre Grenzen, weil mittlerweile der Wunsch, ein schönes Leben haben zu wollen größer ist als die Verpflichtung gegenüber den alten Idealen.
Wie stellst du dir Kreuzberg in 20 Jahren vor?
Julia Rothenburg: Einerseits ist alles offen, ganz besonders an solchen Orten, wo die Themen so zugespitzt sind. Andererseits ist der Ausverkauf der Stadt so zentral, die schicken Altbauten bekommen noch ein Stockwerk drauf und werden immer teurer, und gleichzeitig herrscht so viel Armut. Schwer zu prognostizieren, ob ein ganz großer Knall kommen wird. Vielleicht sorgt diese Zuspitzung auch für eine Verharrung. Dann bleibt dieses krasse Nebeneinander: Kreuzberg wird noch unerschwinglicher werden, aber Orte wie das Kottbusser Tor existieren weiter.
Die schicken Altbauwohnungen brauchen das NZK, um attraktiv zu sein.
Julia Rothenburg: Genau, der Ort wird gebraucht, damit die Leute drumherum Shabby Chic machen können. Man muss es sich leisten können, und man braucht es ein paar Straßen weiter ein kleines bisschen shabby.