„Vernichten“ von Michel Houellebecq: Im Zweifel für Verzärtelung
In „Vernichten“ überrascht Michel Houellebecq mit einem feinfühligen Psychogramm, das sogar eine langjährige Paarbeziehung zynismusfrei in den Blick nimmt.
Zunächst ist in „Vernichten“ alles so, wie man es von Michel Houellebecq erwartet: Bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2027 wird der französische Wirtschaftsminister namens Bruno Junge als Favorit gehandelt.
Dann tauchen Filme im Internet auf, zunächst nur ein Fake-Video, das die Hinrichtung Junges unter der Guillotine zeigt, später aber finden die gezeigten Angriffe auf ein Frachtschiff und eine dänische Samenbank aber auch tatsächlich statt. Doch dieses diffuse Bedrohungsszenario rückt sehr schnell in den Hintergrund, denn im Zentrum von „Vernichten“ steht der Endvierziger Paul Raison, ein enger Mitarbeiter Junges. Inmitten der politischen Wirren erfährt er, dass sein Vater einen Hirnschlag erlitten hat und im Koma liegt. Raison fährt in die Klinik, auf dem Landsitz der Familie im Beaujolais trifft er auf seine Geschwister, und natürlich lebt Raison auch in einer zerrütteten Ehe. Trotzdem ist er nicht ein typischer Houellebecq-Protagonist voller Welthass und misogyner Wichsfantasien, wie man ihn etwa aus „Unterwerfung“ kennt. Auch wenn sich Michel Houellebecq in „Vernichten“ den einen oder anderen reaktionären Seitenhieb nicht verkneifen kann, überrascht der 60-jährige hier mit einem feinfühligen Psychogramm, das nicht nur das Sterben der Eltern und spirituelle Fragen, sondern auch eine langjährige Paarbeziehung zynismusfrei in den Blick nimmt.