Plattenchat Dezember 2022: Mit Die Sauna, White Lung und mehr
Auflegen oder aufregen? Platten, die man im Dezember hören muss – oder eben nicht.
Einmal im Monat diskutieren wir hier über sechs aktuelle Platten. Dieses Mal dominiert die Tanzfläche: Mit zahlreichen Remixes des Duos Local Suicide geht es zurück in die 80er, während Terence Fixmer uns mitnimmt in eine eiskalte Zukunft. Die Nostalgie von Die Sauna stößt eher auf geteiltes Echo – können die internationalen Kolleg:innen von White Lung eher überzeugen? Diese Frage und mehr beantwortet der Chat – wie immer mit Singles zum Reinhören.
Und das sind unsere Chatter:innen im Dezember 2022:
MITJA STEFFENS
fragt sich, ob ein Ausbruch des inneren Punks nötig ist, um die immer düster werdenden Tage zu ertragen, oder ob es energisches Tanzen zu Local Suicide und Terence Fixmer auch tun. Schließlich kann man ja schon eher mit gutem Gewissen in den Club, wenn es früher dunkel wird, oder?
CARSTEN SCHRADER
fragt sich, wo eigentlich Weyes Blood und Stella Sommer sind, wenn man die beiden dringend braucht, um ein weiteres Scheißjahr hinter sich zu lassen. Die Antwort der Koordinationsstelle kulturnews freut ihn: Im aktuellen Heft sind Blood auf 28, Sommer auf Seite 10 zu finden.
MATTHIAS JORDAN
ist zumindest diesen Monat eher Team Club als Team Punk – und hört dann das erfrischend kurze Karolina-Album auf der Heimfahrt mit der U-Bahn. Alternativplan: zu Hause bleiben und zum x-ten Mal „Alien“ schauen.
GASTHÖRER: TAREK MÜNCH
ist neu in unserem Marketing-Team und Spezialist für alles Digitale. Er ist ein Kind der 90er, das sich popkulturell eher zurück entwickelt hat: von Roxette zu Mozart. Beim Crashkurs in zeitgenössischer Musik hat er sich dennoch wacker geschlagen.
Die Sauna: In die Nacht hinein
Tarek: Ganz schön kühl in dieser Sauna. Der düster-monotone Bariton ist gewöhnungsbedürftig, aber Wärme finde ich im Witz, mit dem romantische Bilder und Zeitgeist-Phrasen aufgegriffen werden.
Matthias: Ich fürchte, mein Pensum für 80er-Postpunk-Revivals ist für dieses Jahr erschöpft – und vielleicht auch gleich für die zwei nächsten. Musikalisch gibt es immer wieder Momente, die mir als abwechslungsreich auffallen. Aber das Gesamtpaket ist mir einfach egal.
Carsten: Genau, das ist alles ganz okay, aber die Wave- und NDW-Referenzen sind woanders spannender. „Warum streicht mir niemand Schokolade auf mein Brot?“, will die bayerische Band in „Baden gehen“ wissen. Fragt doch mal Manuel Bittorf alias Betterov. Der ist momentan mein liebster Stullen-Lieferant.
Mitja: Mein Lieblingslieferant für diese Richtung bleibt Edwin Rosen, aber für Die Sauna ist bei mir auch noch etwas Platz auf der Liste mit 80er-Anschmiegungen. Der Platte liegt einiges an Schwermut inne, man kommt häufig ins Grübeln, aber sie liefert auch Anlass zum Schmunzeln. Gute Mischung!
Karolina: All Rivers
Tarek: Ein Album wie Balu der Bär: optimistisch, lässig, streetwise. Der Dschungel wächst aus einem prallen Orchester inklusive Piano und Synthesizern, darin selbstbewusste Vocals im Groove der Hängematte des Lebens.
Mitja: Mir gefällt die organische und vielfältige Instrumentierung dieses Dschungels, nur leider fühle ich mich mit der Stimme Karolinas nicht so ganz wohl. Ein bisschen wie in der Hängematte, in der man nur schwer eine bequeme Position findet. Als Opener für Erykah Badu und Lauryn Hill hat sie völlig zu recht gespielt, nur käme ich schwer ohne Mainact danach aus.
Matthias: Okay, an Erykah oder Lauryn mag sie nicht herankommen, aber ich finde die Soulstimme der Israelin absolut in Ordnung. Ein sehr nettes, bei aller Abwechslung entspanntes Album – mir gefällt besonders der hohe Mort-Garson-Synth im Intro, der dann im Closer zurückkehrt.
Carsten: Wäre ohne den Chat nie auf die Idee gekommen, mir diesen Grenzgang zwischen Afrobeat, Jazz und Soul anzuhören – und bin wirklich überrascht, wie wohl ich mich in der Hängematte gefühlt habe. Ja, beim Opener feiere ich auch die Trompete von Avishai Cohen.
Jemma Freeman & The Cosmic Something: Miffed
Tarek: In dieser Musik scheint die Fast-Forward-Taste ununterbrochen gedrückt. Die Jagd nach dem nächsten Kick oder dem großen Glück kreiert einen spannungsreichen Sound, der regelmäßig zu Crashs führt.
Carsten: Beim Gitarrengegniedel des siebenminütigen Openers „Big Bread“ habe ich die Vorspultaste gebraucht. Danach wird es besser: Der Brecher „Easy Peeler“ funktioniert für mich, weil ich Jemmas Wut auf das Patriarchat, Transmisogynie und Impfgegner:innen teile. Und „Noboby ever“ ist ja fast schon ein Popsong.
Matthias: Komisch, aber im Gegensatz zu White Lung machen mir hier die ausführlicheren Gitarren wenig aus. Vielleicht, weil die einfach dreckiger klingen. Oder, weil Jemma Freeman tatsächlich gute Songs schreibt. „Easy Peeler“ reiht sich nahtlos bei Idles oder Sleaford Mods ein.
Mitja: Gut, dass du mir die Message der Songs nachlieferst, Carsten – ich hab wohl zu viel geskippt, um sie komplett mitzunehmen. Das ist musikalisch einfach nicht my cup of tea, weshalb ich mir trotz offenbar guter Lyrics lieber die nächste Platte vornehme.
Local Suicide: Eros Anikate Remixes
Tarek: Techno meets Mythologie. Schillernde Beats meditieren über Adonis und Herkules. Reise in die Vergangenheit, als Zeit und Raum, Theorie und Ambitionen auf der Tanzfläche entrückten: Ist morgen schon wieder Uni?
Mitja: Hoffentlich nicht, denn vor allem so druckvolle Deephouse-Tracks, wie der für das Hamburger Duo Adana Twins typische „Whispering” ziehen mich unweigerlich auf die Tanzfläche. Vielleicht halten mich nicht alle Songs dort, aber bei einer Remix-Zusammenstellung ist es ja auch schwierig, wirklich konsistent zu bleiben.
Carsten: Als Fanboy bin ich ganz am Ende bei der Hidden-Cameras-Kollabo „Homme fatal“ eingestiegen, die es in zwei Remixen gibt. Habe mich dann aber auch nach vorne durchgetanzt. Tolle Remix-Version eines tollen Debüts, das mit Dark Disco leichtes Spiel bei mir hat. Matthias, du magst es lieber, wenn die beiden als Dina Summer in Italodisco machen, oder?
Matthias: Ach, mir sind beide Inkarnationen des Duos auf Dauer ein bisschen zu retro. Das gilt auch für die geballte Ladung Remixe, obwohl einzelne mir richtig gut gefallen. So ohne Tanzfläche ist das Album für mich wirklich eher Uni: eine spannende Studie darüber, was man alles mit Songs so anstellen kann.
Terence Fixmer: Shifting Signals
Tarek: Im Wummern entstehen immer wieder Klangbilder, die Ruhe und Erhabenheit ausstrahlen. Die in sich geschlossenen Welten dieser Tracks erinnern mich an den energiegeladenen Mikrokosmos von Debussy.
Carsten: Der Franzose hat sich bei seinem siebten Album von „Alien“ inspirieren lassen. Passt voll, denn 2022 hat sich für mich angefühlt wie die Schlussszene von irgendeinem Teil aus der „Alien“-Reihe in Dauerschleife: Es ist nicht vorbei, das Böse hat überlebt. Mit „Shifting Signals“ tanze ich das Drecksjahr weg. Kommst du als Ripley mit an Bord, Mitja?
Mitja: Aye aye, Kapitän! Kann mir nämlich vorstellen, dass dazu eine brachiale Liveshow abgefeuert wird. Fürs heimische Wohnzimmer ist es mir aber zu monoton düsteres Gepluckere.
Matthias: Da der erste „Alien“-Teil einer meiner absoluten Lieblingsfilme ist, hat Fixmer hier von vornherein einen Stein im Brett. Obwohl: Ein bisschen oppressive Monotonie stellt sich auch bei mir ein, weshalb es mich freut, dass sich das Album zum Schluss für Klavier und Ambient öffnet.
White Lung: Premonition
Tarek: Raue Stimme, ehrliche E-Gitarren, trotzdem wirken die Songs emotional gleichförmig wie eine durchgestylte Netflix-Serie im perfekten 80er-Jahre-Look. Am besten gefallen mir die leisen, leicht esoterischen Intros.
Matthias: White Lung werden gern mal als Retter:innen des Punk gefeiert, aber mir ist das auch alles zu glattpoliert. Vielleicht sind Mish Barber-Way und ihre Kolleg:innen einfach zu gute Musiker:innen, um den nötigen Gammel hinzukriegen.
Mitja: Mit noch einem zweiten Rockalbum macht es mir der Plattenchat diesmal nicht leicht, deshalb kann ich mich Tarek und Matthias hier nur anschließen. Vielleicht haben sich White Lung ihre jugendlich-wütende Punkattitüde auch auf der fünften Platte bewahrt – und ich meine einfach nie gefunden.
Carsten: Sind wirklich fünf Jahre seit dem letzten Album vergangen? Zu glattpoliert finde ich „Premonition“ auch, aber nicht zu gleichförmig: Bei „Under Glass“ lässt es sich doch sogar knutschen. Und zu „Date Night“ überlege ich mal, was ich aus meinem Leben alles mit Benzin übergießen und anzünden will. Vielleicht hat Netflix ja ein Interesse daran, diesen Neuanfang zu begleiten.