„Malé“ – Im freien Verfall
Mit seinem neuen Buch „Malé“ denkt Roman Ehrlich das Südseeparadies der Malediven für die Generation Greta radikal neu.
Roman, dein neues Buch spielt in einer nahen Zukunft auf Malé, der Hauptstadt der Malediven. Der Meeresspiegel steigt, das Meer holt sich die Insel nach und nach zurück, und nach einem Militärputsch hat sich dort eine Aussteiger-Gemeinschaft angesiedelt. Trotz des Verfalls ist die Insel in dem Roman ein größerer Sehnsuchtsort als das real existierende Malé heute, oder?
Roman Ehrlich: Zumindest gibt es eine größere Offenheit hin zu der Möglichkeit eines anderen Lebens. Die meisten Leute, die heute auf den Malediven Urlaub machen, streben ja eher die Flucht aus ihren Verantwortungsverhältnissen an. Sie reisen auf die Insel, um gerade nicht die Konsequenzen des eigenen Handelns vor Augen geführt zu bekommen. Sie wollen endlich mal nicht in die Komplexitäten ihrer Arbeitsverhältnisse eingespannt sein, sondern die Reduktion auf diese simple Anordnung Strand-Palme-Meer-Cocktail genießen. Die Figuren, die in meinem Roman auf der Insel sind, streben sicherlich eine andere Form des Reisens an als diejenigen, die heute in diese Ressorts fahren.
„Man will eingekapselt sein und alles an einem Ort haben, um dann Herr über diesen Ort sein zu können.“
Eskapismus ist ein wichtiges Stichwort. Viele deine Figuren fühlen sich überfordert, sie wollen ihre Lebensverhältnisse entkomplizieren, stärker im Einklang mit sich sein und eine alternative Lebensform finden.
Ehrlich: Es gibt von Roland Barthes einen sehr guten Text über Jules Verne, in dem er dessen Unterseeboot Nautilus als das superlativische Haus beschreibt. Da geht es gar nicht darum, dass es abenteuerlich ist oder eine Ausfahrt in fremde Regionen gemacht wird. Die eigentliche Sehnsucht ist die Einschließung. Man will eingekapselt sein und alles an einem Ort haben, um dann Herr über diesen Ort sein zu können. Viele erhoffen sich das auch von der Insel – und je kleiner sie ist, desto besser. Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass man sich diesen Rückzug wünscht. Aber wenn an einem solchen Ort eine wirkliche Auseinandersetzung mit sich selbst erfolgt, glaube ich auch, dass eh wieder das hervorsprudelt, worum es immer gegangen ist.
Im Roman wird die untergehende Insel Malé mit West-Berlin in den 80ern verglichen.
Ehrlich: West-Berlin ist ein gutes Beispiel, aber in dem Roman werden ja noch weitere Orte genannt, die kurz vor oder kurz nach dem Verfall eine neue Art von Sehnsuchtsbewegung ausgelöst haben. Etwa Detroit nach dem Zusammenbruch der Automobilindustrie: Alles ist verfallen und halbleer, aber genau das haben die Leute für sich genutzt, indem sie diese Räume besetzt haben. Wenn etwas Altes kollabiert, ist ja plötzlich Platz da. So habe ich etwa auch Leipzig erfahren, als ich in den frühen Nullerjahren dort hingekommen bin. Einige Leute meinen ja heute auch, man müsse jetzt eigentlich mal nach Havanna fahren, bevor die Demokratisierung vorangeht und der Castro-Clan nicht mehr an der Macht ist. Jetzt kann man sich noch diese unrenovierte Romantik anschauen, die Leute, die mit ihren uralten Autos durch die Gegend fahren. Es geht darum, diese Orte zu bereisen, bevor sie im übertragenen Sinn untergehen.
„Ich hoffe auf Leser*innen, die bereit sind, im Lesen ein bisschen die Geschwindigkeit zu drosseln.“
Bei Havanna geht es um einen Untergang im übertragenen Sinne, während der Untergang von Malé in deinem Roman ganz konkret ist. Generell benutzt du in deinen Texten oft gesellschaftlich dringliche und viel diskutierte Themen als Absprungbrett, bei „Malé“ die Auswirkungen des Klimawandels. Das birgt die Gefahr, dass die Räume, die du hinter dem aktuellen Zugang öffnest, übersehen werden könnten.
Ehrlich: Natürlich gibt es die Gefahr, dass die subtileren Angelegenheiten übergangen werden. Aber ich kann kein Buch schreiben, dass sich nicht aus meiner Zeitgenossenschaft speist. Mir bleibt nur, darauf zu vertrauen, dass die Lesenden von meinen Büchern eine andere Form des Wirklichkeitszugriffs wollen und in ihnen nicht nur den aktuellen Diskurs suchen. Ich hoffe auf Leser*innen, die bereit sind, im Lesen ein bisschen die Geschwindigkeit zu drosseln. Die bei verschiedenen Sätzen verweilen und horchen, was diese Sätze in ihnen auslösen.