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Ryuichi Sakamoto ist tot: Abschied mit 6 Songs aus 6 Jahrzehnten

Ryuichi Sakamoto
(Foto: zakkubalan)

Im Alter von 71 Jahren ist der japanische Komponist und Elektro-Pionier gestorben. Wir erinnern uns an seine lange Karriere.

Ryuichi Sakamoto ist tot, und die Musikwelt trauert. Zwar war abzusehen, dass der japanische Pionier nicht mehr allzu lange leben würde. Immerhin hatte er erst im Januar ein Album veröffentlicht, auf dem er sich mit seiner Krebserkrankung auseinandersetzt. Doch als nun bekannt gegeben wurde, dass Sakamoto bereits am 28. März verstorben ist, war die Nachricht dennoch für viele ein Schock. Der Verlust ist groß, war der 1952 geborene Japaner doch ein Pionier in mehreren Genres, der über einen langen Zeitraum immer wieder neue Impulse gegeben und mit Künstler:innen aus aller Welt kollaboriert hat. Wir erinnern uns an ihn – indem wir sechs seiner Kompositionen aus sechs Jahrzehnten zelebrieren.

1979: Technopolis

Zwar war der studierte Komponist Ryuichi Sakamoto schon zuvor als Musiker aktiv, doch erste größere Wellen hat er als Mitglied von Yellow Magic Orchestra geschlagen. 1978 hat er das Trio gemeinsam mit Haruomi Hosono und Yukihiro Takahashi (der ebenfalls in diesem Jahr verstorben ist) gegründet, zunächst als eher augenzwinkerndes Experiment. Der Name war eine Anspielung auf westlichen Orientalismus, und anfangs ging es vor allem darum, elektronische Klänge mit asiatischer Musik zu kombinieren. Doch unvermittelter Erfolg machte YMO zu einem der größten Acts in Japan, und schnell war auch der Welt klar, dass hier etwas Wichtiges passierte und das Trio weit mehr war als die japanische Antwort auf Kraftwerk.

1979 legten Yellow Magic Orchestra ihr zweites und vielleicht einflussreichstes Album vor: „Solid State Survivor“ war mit seinen unwiderstehlichen Melodien und seiner futuristischen Ästhetik stilbildend für Genres wie Synthpop, New Wave und Techno. Der Opener „Technopolis“, geschrieben von Sakamoto und inspiriert von der Metropole Tokio, fasst die kunterbunte Aufbruchsstimmung der Platte perfekt zusammen.

1983: Merry Christmas, Mr. Lawrence

In den frühen 80ern, nur wenige Jahre nach dem Debüt, hatte Sakamoto bereits mehrere Alben mit YMO sowie drei Soloplatten veröffentlicht – darunter „B-2 Unit“, das mit Songs wie „Riot in Lagos“ prägend für späteren Elektro und HipHop werden würde. Doch das Jahrzehnt hat ihm auch eine ganz andere Karriere eröffnet: In dem Film „Furyo – Merry Christmas, Mr. Lawrence“ (1983) hat er seine erste Rolle als Schauspieler übernommen. Sakamoto spielt einen Aufseher in einem japanischen Gefangenenlager im Zweiten Weltkrieg, der sich in einen britischen Soldaten, gespielt von David Bowie, verliebt.

Zusätzlich zu seiner Rolle hat Ryuichi Sakamoto auch den Soundtrack komponiert, der heute möglicherweise bekannter ist als der Film selbst. Im Hauptthema zeigt sich die andere Seite Sakamotos: der romantisch veranlagte Pianist und Debussy-Verehrer, der mit Neoklassik den Ohren schmeichelt, statt mit Klängen zu experimentieren. Der Erfolg des Soundtracks führte dazu, dass Sakamoto bei zahlreichen anderen Filmen als Komponist angefragt wurde, darunter „Der letzte Kaiser“, für den er 1987 den Oscar gewann, und (gemeinsam mit Alva Noto) „The Revenant – Der Rückkehrer“ von 2015.

1998: Discord

Auch in den 90er-Jahren hat sich Sakamoto nicht auf seinen Lorbeeren ausgeruht, sondern weiterhin seinen Horizont erweitert. Ein Beispiel ist das Album „Discord“ von 1998, das aus einer einstündigen Komposition für Orchester besteht. Über vier Sätze nimmt Sakamoto sein Publikum mit auf eine Reise von Trauer bis zu Erlösung und beschäftigt sich mit einem Thema, das mit den Jahren immer zentraler in seinem Werk werden würde: dem Tod.

2003: World Citizen (I won’t be disappointed)

Einer der zahlreichen musikalischen Partner Sakamotos hat noch keine Erwähnung gefunden, obwohl er seit den 80ern immer wieder mit ihm zusammengearbeitet hat: David Sylvian. Erstmals als Frontmann der Band Japan bekannt geworden, machte sich Sylvian Anfang der 80er selbstständig. Die Doppelsingle „Bamboo Houses“ und „Bamboo Music“ mit Sakamoto legte 1982 den Grundstein für eine langjährige Zusammenarbeit. Unter anderem hat Sylvian Sakamotos Thema aus „Merry Christmas, Mr. Lawrence“ mit Gesang versehen und 1983 als „Forbidden Colours“ wiederveröffentlicht. 2003 haben sich Sakamoto und Sylvian für die EP „World Citizen“ zusammengetan, die ihre gemeinsame Affinität zum Ambient demonstriert und auch als Reaktion auf 9/11 entstand. Auf Instagram hat Sylvian seinem Freund gleich mehrere Posts gewidmet.

2017: Andata

2014 wurde bei Ryuichi Sakamoto Rachenkrebs diagnostiziert, woraufhin sich der Komponist eine Auszeit nahm. Die Therapie schlug an, und schon bald konnte Sakamoto wieder arbeiten. Doch die Erfahrung veränderte die Art, wie er über das Leben dachte – und über die Musik. Als Resultat veröffentlichte er 2017 das Album „async“, eine Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit. Darauf finden die beiden Seiten seiner musikalischen Persönlichkeit zueinander: Abstrakte Ambient-Kompositionen stehen neben melodischem Klavier, sanfte Field Recordings neben harschen Klängen.

Sakamoto selbst beschrieb das Album als Soundtrack zu einem imaginären Tarkowski-Film, und vielleicht klingt der Opener „Andata“ deshalb anfangs nach Bach, bevor das Klavier von einer Wand aus Klang erstickt wird. Christian Petzold hat die Komposition für seinen neuen Film „Roter Himmel“ genutzt. An anderen Stellen des Albums wird das Thema expliziter: In „fullmoon“ stellen mehrere Stimmen die Frage danach, wie lange das Leben dauern wird, während „Life, Life“ ein Gedicht von Arseni Tarkowski, dem Vater des Regisseurs, vertont.

2023: 20211201

Sakamotos erste Begegnung mit dem Krebs sollte nicht seine letzte bleiben. 2021 gab er auf seiner Webseite bekannt, dass er nun an Darmkrebs erkrankt sei. Erneut inspirierte ihn das Leben mit der Krankheit zu einem Album. Doch das erst im Januar 2023 veröffentlichte „12“ ist anders als „async“: In den 12 Tracks, die nur die jeweiligen Tage ihrer Entstehung zum Titel haben, führt Sakamoto eine Art musikalisches Tagebuch. Es sind zu großen Teilen improvisierte Klavierstücke, manchmal auch reiner Ambient. Bei mehreren Aufnahmen, darunter „20211201“, ist Sakamotos schwerer Atem zu hören und ruft die Realität seiner Erkrankung schmerzhaft deutlich in Erinnerung. Umso heroischer ist der zweite Teil des Albums, auf dem er zur Melodik zurückfindet. „12“ ist damit ein perfekter Abschluss von Sakamotos langer Karriere: ein Testament, das seine Kreativität, seinen Mut und seine unbedingte Liebe zur Musik gleichermaßen widerspiegelt.

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