Im Dschungel
Mit „Das Dämmern der Welt“ erzählt Werner Herzog die Geschichte eine japanischen Soldaten, der das Ende des Zweiten Weltkriegs verpasst und bis in die 70er-Jahre einen Guerillakrieg geführt hat.
Hätte es Hiroo Onoda nicht wirklich gegeben, Werner Herzog hätte ihn erfinden müssen. Zu perfekt passt die Geschichte des japanischen Soldaten, der das Ende des Zweiten Weltkriegs verpasst und bis in die 70er-Jahre einen einsamen Guerilla-Krieg auf der philippinischen Insel Lubang geführt hat, zu den Themen, mit denen sich der deutsche Regisseur seit Jahrzehnten immer wieder befasst: die wahnhafte Obsession eines Einzelnen, die Absurdität von Gewalt, die blinde Übermacht der Natur.
Natürlich hat Herzog den 2014 verstorbenen Onoda noch selbst getroffen und intensive Gespräche mit ihm geführt. Bleibt die Frage, warum er dessen Geschichte nicht in einem Film verarbeitet hat, sondern in einem eher schmalen Tatsachenroman. Vielleicht, weil das, was Herzog an Onodas Leben am meisten interessiert, selbst für ihn filmisch nur schwer einzufangen gewesen wäre: das völlige Stillstehen in der Zeit. Onoda ist jahrzehntelang im Jahr 1944 verharrt, hat Tag und Nacht seine Uniform getragen und alle Kontaktaufnahmen als Hinterhalte ausgelegt. Ein tragischer Stoff, der Herzog zahllose Gelegenheiten für Auslassungen über die Zerbrechlichkeit der Zivilisation und die Formbarkeit der Wirklichkeit gibt. Sprachlich ist dabei kein Wort zu viel, und doch sprudelt „Das Dämmern der Welt“ vor Leben – insbesondere die Beschreibungen des Dschungels können so nur von einem Mann stammen, der fast so viel Zeit dort verbracht hat wie Onoda selbst.
Mit „Das Dämmern der Welt“ hat es Werner Herzog auf unsere Liste der besten Bücher im Oktober 2021 geschafft.