Die Grenze des Erträglichen
In „Alle Hunde sterben“ hält die 27-jährige Künstlerin Cemile Sahin aus Berlin kompromisslos fest, was niemand gesehen haben will.
Ein erster Satz wie eine Regieanweisung: „Wir sehen ein Hochhaus im Westen der Türkei.“ Danach arbeitet sich Cemile Sahin von Stockwerk zu Stockwerk und lässt in neun Episoden die Bewohner des Hauses erzählen. Sie alle haben Folter, Gewalt und Verschleppung durch Einheiten der türkischen Armee und der Polizei erlebt, von denen sie zu Terroristen erklärt werden. Necla etwa, die von ihrem Peiniger in einer Hundehütte angekettet und gezwungen wird, eine tote Ratte zu essen. Natürlich liegt es nah, diese kaum auszuhaltenden Protokolle der Gewalt auf die Unterdrückung von Kurd*innen zu beziehen, schließlich stammt Cemile Sahin aus einer kurdischen Familie. Doch die in Berlin lebende Autorin vermeidet die Konkretisierung und irritiert ganz bewusst mit einem Foto, das sie vor jeder Episode wiederholt – und auf dem eben nicht ein Hochhaus in der Türkei, sondern ein US-amerikanisches Parkdeck zu sehen ist. So wie die 27-Jährige sich nicht als Schriftstellerin, sondern als bildende Künstlerin definiert, die Video, Text und Skulptur kombiniert, versteht sie auch „Alle Hunde müssen sterben“ vor allem als Vorarbeit für einen Film, der kompromisslos das festhalten soll, was hinterher niemand gesehen haben möchte. Und natürlich ist Cemile Sahin auch auf unserer Liste mit den besten Büchern im Oktober 2020 vertreten.