Die besten Bücher 2020: Sieben Empfehlungen für den September
Perfekte Romane für den Spätsommer: Die besten Bücher im September 2020 mit Sally Rooney, André Aciman, Linus Giese, Annette Mingels und Jonas Eika.
Die besten Bücher im September 2020: André Aciman hat eine Fortsetzung zu „Call me by your Name“ geschrieben und verrät in „Find me – Finde mich“, wie es mit Elio und Oliver weitergeht. Annette Mingels erfindet in „Dieses entsetzliche Glück“ die Kleinstadt Hollyhock und erzählt von deren Bewohnern.
Der Protagonist von Marius Goldhorns Debüt „Park“ nervt – doch ist die Auflösung so gut, dass es „Park“ auf die Liste der besten Bücher im September 2020 geschafft hat. Ebenfalls ein sehr lesenswertes Debüt: Die Autobiografie von Linus Giese.
Dorothee Elmiger hat mit „Aus der Zuckerfabrik“ zwar keinen Roman geschrieben, wohl aber einen sehr spannenden Text, in dem sie ihre Recherchen zu ganz unterschiedlichen Themen zusammenführt.
Natürlich fehlt auch Sally Rooneys zweiter Roman „Normale Menschen“ nicht auf unserer Liste der besten Bücher 2020. Doch an einem kam sie nicht vorbei: Jonas Eika mit seinen so sprachgewaltigen Novellen aus „Nach der Sonne“.
7. Anette Mingels: Dieses entsetzliche Glück
Woanders ist das Gras viel grüner. Jedenfalls scheint es oft so. Die fiktive Kleinstadt Hollyhock wird zum Knotenpunkt der Lebenswege von 15 Menschen, von denen Annette Mingels in für sich stehenden und gleichzeitig doch miteinander korrespondierenden Erzählungen berichtet. So verschieden die Situationen und Gefühlswelten der Figuren zunächst wirken, teilen sie doch alle letztlich eine Sehnsucht nach dem, was sie vermeintlich nicht haben: Während Amy und Robert ihre Erfüllung in einer offenen Beziehung suchen, übersehen sie, wie sehr sie einander brauchen. Auch der Schriftsteller Kenji blickt zweifelnd auf seinen Erfolg und ahnt nicht, wie andere zu ihm aufsehen. Seine Schwester Aiko dagegen erträgt stillschweigend die Last ihres Alltags, gilt jedoch als glückliche und aufstrebende Studentin. Und Basil scheint als langjähriger Jugendfreund gänzlich aus Kenjis Lebenserinnerungen gestrichen worden zu sein, steht jedoch unmittelbar in seiner Nähe. Mingels Freude, Geschichten zu erzählen, wird durch ihren einfühlsamen Blick auf das Innenleben ihrer Protagonist*innen spürbar. Sie lässt eine Nähe zu den Figuren zu, die betroffen macht, und verdeutlicht zugleich, wie weit sie sich durch das Schweigen voneinander entfernen.
Penguin Verlag, 2020, 352 S., 20 Euro
6. Marius Goldhorn: Park
Freuen kann man sich nicht, wenn man sich mit Arnold identifiziert, dem Protagonisten von Marius Goldhorns Debütroman „Park“. Goldhorn bietet seinen Leser*innen reichlich positive Andockpunkte – Arnolds Leidenschaft für obskure Literatur und Musik, seine Verweigerung gegenüber der Leistungsgesellschaft und jede Menge schmerzhafte Jugendromantik. Doch „Park“ ist eine Gratwanderung: ein Porträt eines Erzählers, das gerade genug Identifikationsfläche bietet, sodass viele von dessen Mängeln umso unangenehmer zum Abgleich zwingen. Arnold lebt in den Tag hinein. Arnold guckt auf sein iPhone. Arnold schreibt Gedichte. Er trauert Odile hinterher, die er nach einer innigen Affäre zum ersten Mal für den Dreh eines Films in Athen wieder treffen wird. Arnold guckt auf sein iPhone. Arnold träumt von Aliens. In seinem Traum löschen die Aliens die Menschheit aus. Arnold hat einen Ausschlag auf der Brust. Arnold googlet seinen Ausschlag. In Athen wohnt Arnold politischen Unruhen bei. Das lässt Goldhorn einfach so stehen, mit spröder, parataktischer Prosa, die letztlich doch Gefahr läuft, selbst auf kurzer Länge zum Ausdauertest zu werden. Doch entlohnt er die Geduld mit einem Ende, das völlig unerwartet und dafür umso berührender mit einer ungeahnten poetischen Leichtigkeit alle Fragen einlöst, die der Roman stellt. Vor allem die über Arnold. Und das reicht dann auch für Platz sechs auf unserer Liste der besten Bücher im September 2020.
Suhrkamp, 2020, 192. S., 14 Euro
5. André Aciman: Find me – Finde mich
Luca Guadagninos Adaption von André Acimans Roman „Call me by your Name“ mit Timothée Chalamet und Armie Hammer zählt zu den bewegendsten Liebesfilmen aller Zeiten – und natürlich endet sie tragisch. Die Romanze zwischen dem 17-jährigen Elio und dem sieben Jahre älteren Doktoranden Oliver währt nur einen Sommer: Unvergessen sind Elios bittere Tränen zu „Visions of Gideon“ von Sufjan Stevens, nachdem ihm Oliver am Telefon von seiner Verlobung in den USA erzählt hat – und dann folgt nur noch der Abspann. Auch den 69-jährigen Aciman haben seine Figuren nicht losgelassen, und mit „Find me – Finde mich“ erscheint nun die Fortsetzung seiner bereits 2007 erschienenen Romanvorlage. Doch wer nur an Elio und Oliver interessiert ist, braucht Geduld: In der ersten Hälfte des Romans geht es ausschließlich um Elios Vater Samuel, der auf einer Zugfahrt die junge Miranda kennenlernt. Typisch Aciman: Das Verlieben dauert meist nur wenige Sekunden – doch wer das nicht als Kitsch beiseite wischt, wird mit klugen Reflexionen über das Begehren und diese fragilen Konstrukte namens Zweierbeziehung belohnt. Ganz ähnlich ist es, wenn der inzwischen als Pianist in Paris lebende Elio im zweiten Teil des Romans auf dem deutlich älteren Michel trifft, und schließlich ist da auch Oliver, der in Kapitel drei mit seinem Eheleben hadert. Was aber bleibt von einer prägenden Bindung, wenn die Magie des Augenblicks schon so viele Jahre vorüber ist? Erst ganz am Ende kommt es auf nicht mal 20 Seiten zum Wiedersehen von Oliver und Elio … Übrigens plant auch Guadagnino eine Fortsetzung seines Films mit allen Darstellern. An Acimans extrem gelungenem, aber fürs Kino wenig funktionalen Roman wird er sich wohl eher nicht orientieren.
dtv, 2020, 296 S., 22 Euro
Aus d. Engl. v. Thomas Brovot
4. Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik
„Martin, der Lektor, sagt, im Falle einer Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen müsse auf jeden Fall ,Roman’ auf dem Umschlag stehen. […] Ich sage, es handle sich um einen Bericht über eine Recherche.“ Mit diesem Satz, ungefähr in der Mitte von „Aus der Zuckerfabrik“, fasst Dorothee Elmiger ihr neues Buch denkbar gut zusammen. Statt mit einer Handlung oder Figuren, die mehr als Initialen sind, werden Leser mit Elmigers eigener Suche nach einem Zusammenhang konfrontiert. Sie ist wie besessen von einzelnen historischen Szenen, die ein denkbar weites Feld abdecken: die Versteigerung der Besitztümer eines bankrotten Lottogewinners. Eine Doku über eine dominikanische Zuckerplantage. Die Aufzeichnungen einer frühen Patientin der Psychoanalyse. Kapitalismus und Kolonialismus. Ihre eigene Suche nach Liebe. Jede Menge Literatur. Was haben all diese Komplexe gemeinsam? Die Autorin weiß es selbst nicht genau – aber sie ahnt, dass der menschliche Hunger, das Begehren in all seinen Facetten von Sehnsucht bis Gier eine zentrale Rolle spielt. Was sperrig beginnt, entwickelt bald einen hypnotischen Sog: Man sieht zu, wie Elmiger Fragmente aufhäuft, und wie ihr selbst schwindelt einem von den plötzlich sichtbaren Verbindungen. Das Schönste an diesem sehr schönen Buch ist die Art, wie es sich zuletzt selbst als Illustration des menschlichen Hungers erweist: des Hungers nach Wahrheit.
Hanser, 2020, 272 S., 23 Euro
3. Linus Giese: Ich bin Linus
Die Geschichte von Linus Giese beginnt mit einem Kaffeebecher. Im Jahr 2017 sagt der damals schon 31-Jährige einem Barista für die Bestellung seinen Namen: „Ich bin Linus“. Einen Namen, den der studierte Germanist, Literaturblogger und Buchverkäufer da zum ersten Mal ausspricht, obwohl er ihn insgeheim schon lange für sich gewählt hat. Denn Linus Giese ist ein trans Mann. Von seinen Eltern, dem Umfeld und einer binären Gesellschaft wurde er aufgrund seines Körpers lange Zeit als Frau wahrgenommen. In seinem Buch „Ich bin Linus – Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war“ erzählt Giese davon, wie er im Anschluss, zittrig vor Glück, mit lautem Herzklopfen und dem Kaffeebecher in der Hand, die ersten Momente seines neuen Lebens erlebt hat – und wie sich alles verändert hat, seitdem er den ersten Befreiungsschritt getan hat. Giese erzählt von den ganz profanen Hürden, die trans Menschen in den Weg gelegt werden: die bürokratischen Schwierigkeiten bei der Namensänderung, die angsterregenden Arztbesuche, um etwa Testosteron verschrieben zu bekommen. Damit leistet er eine unentbehrliche Aufklärungsarbeit, die selbst Menschen dabei hilft, inklusiver zu sein, die sich bereits für offen und tolerant halten. Doch ist „Ich bin Linus“ noch so viel mehr: eine berührende Autobiografie, ein Plädoyer für die Macht der Sprache und unser Platz drei auf der Liste der besten Bücher im September 2020.
Rowohlt Polaris, 2020, 224 S., 15 Euro
2. Sally Rooney: Normale Menschen
Ihre Plots sind vermeintlich unspektakulär: In Sally Rooneys auch hierzulande sehr erfolgreichem Debüt „Gespräche mit Freunden“ schwadronieren die vier Protagonist*innen über Sex und Freundschaft, Kunst und Literatur, Politik und Genderfragen. Mehr nicht. Wenn jetzt der noch sehr viel bessere und bereits im Jahr 2018 für den Man Booker Prize nominierte Nachfolger der literarschen Überfliegerin aus Irland endlich in deutscher Übersetzung erscheint, ist auch die Handlung von „Normale Menschen“ schnell erzählt: Es geht um die Anti-Liebesgeschichte von Marianne und Connell, die sehr schnell merken, dass ihre Zuneigung füreinander etwas ganz Besonderes ist. Doch über den Status einer On-Off-Beziehung kommen sie nie hinaus. Während ihrer Jugend im ländlichen Sligo halten sie ihre Affäre geheim: Marianne schämt sich, weil Connells Mutter für ihre Familie als Putzfrau arbeitet, und der allseits beliebte Fußballstar mag sich nicht zu Marianne bekennen, weil sie von seinen Freunden als Freak verspottet wird. Später, während des Studiums in Dublin, haben sich die Rollen vertauscht: Die belesene Marianne ist überall gern gesehen, doch nun ist Connell der Außenseiter aus einfachen Verhältnissen. Die 29-jährige Sally Rooney erzählt diese Geschichte in einem rasanten Tempo und verschwendet keine Zeit auf Metaphern und literarische Schönfärberei. Wie vielschichtig und tiefgehend ihr Roman dennoch ist, lässt sich auf Starzplay an der auf Rooneys Roman basierenden zwölfteiligen BBC-Serie ablesen. Soziale Scham, häusliche Gewalt, Depression, Essstörungen, Selbsterniedrigung: Regisseur Lenny Abrahamsom formuliert all diese Themen aus, die Rooney mit dem Blick des Millennials nur streift, um gesellschaftliche Verhältnisse komplett pathosfrei abzubilden. Das ergibt Platz zwei auf unserer Liste der besten Bücher im September 2020.
Luchterhand, 2020, 320 S., 20 Euro
Aus d. Engl. v. Zoë Beck
1. Jonas Eika: Nach der Sonne
Unser Spitzenreiter auf der Liste der besten Bücher im September 2020: Als er im letzten Jahr mit dem Literaturpreis des Nordischen Rats ausgezeichnet wird, nutzt der Däne Jonas Eika seine Dankesrede, um vor Ministerpräsidentin Mette Frederiksen den staatlichen Rassismus seines Heimatlandes anzuprangern. Eine ähnliche Sprengkraft trägt auch das Debüt des 29-Jährigen in sich, das jetzt in deutscher Übersetzung erschienen ist: In den Novellen von „Nach der Sonne“ geht es um die Löcher, die der Kapitalismus in Eikas Protagonist*innen gerissen hat – und um die Versuche, sie zu stopfen. Da ist ein greises Ehepaar, das den Krebstod seiner beiden Töchter verarbeiten will und in der Wüste Nevadas strandet, um auf die Ankunft von Außerirdischen zu warten. Da ist ein IT-Berater in Kopenhagen, der feststellt, dass die Bank, für die er arbeitet, in einen Krater versunken ist. Vor allem aber ist da der zweiteilige Text „Bad Mexican Dog“, in dem Eika mit brutaler Sinnlichkeit von den blutjungen Beachboys am Strand von Cancún erzählt, die den reichen Touristen die Sonnenschirme hinterhertragen, sie eincremen und massieren und ihnen kühle Getränke reichen. Angetrieben von der Solidarität untereinander, vom Begehren und der Sehnsucht nach Liebe erschaffen die Jungen eine Parallelwelt, die sich nach und nach vor die übersättigte, fettleibige und gefühlskalte Wirklichkeit schiebt.
Hanser Berlin, 2020, 160 S., 20 Euro
Aus d. Dän. v. Ursel Allenstein