Die besten Bücher 2022: Empfehlungen für den Januar
Da verliert selbst die Quarantäne ihren Schrecken: Die besten Bücher im Januar 2022 mit Dennis Cooper, Marlen Pelny und Franz Dobler.
Das neue Jahr geht gut los, denn mit „Die Schlampen“ liegt endlich ein weiteres Buch von Dennis Cooper in deutscher Übersetzung vor. Wird es dieser Roman, der sich aus Postings von einer Website zusammensetzt, auf der Stricher von ihren Kunden bewertet werden, auch auf die Spitzenposition unserer Liste der besten Bücher im Januar 2022 schaffen? Kaspar Colling Nielsen hält mit den 17 Kurzgeschichten aus „Mount Copenhagen“ dagegen. Colling Nielsen steckt voller Erfindungsreichtum und Spaß am Erzählen, doch seine Sammlung ist zugleich durchwoben von Zynismus und groteskem Humor. Auch Ulf Erdmann Ziegler kann sich Hoffnungen machen, auf unserer Liste der besten Bücher im Januar 2022 gut abzuschneiden. „Eine andere Epoche“ spielt im Winter nach dem NSU-Skandal, und erzählt wird aus der Sicht des fiktiven Bundestags-Büroleiters Wegman Frost. Vielleicht landet mit Marlen Pelny aber auch eine Debütantin auf dem Spitzenplatz unserer Liste des besten Bücher im Januar 2022. Der lange Weg ihres herausragenden Romans „Liebe / Liebe“ konfrontiert die Leser:innen zudem mit der Mutlosigkeit des Literaturbetriebs. Und schließlich ist da mit „The Beast in me“ auch noch die Neuauflage von Franz Doblers Johnny-Cash-Biografie.
Die besten Bücher im Januar 2022
5. Franz Dobler: The Beast in me
2002 – zu Johnny Cashs 70. Geburtstag – hat Franz Dobler erstmals die Biografie „The Beast in me“ veröffentlicht. Ein Jahr später ist Cash gestorben, und wiederum 17 Jahre später ist nun die Neuausgabe da – obwohl Dobler selbst in der Einleitung schreibt, dass in diesem Zeitraum eigentlich keine neue Cash-Musik erschienen ist, die das rechtfertigen würde. Dieser Freimut illustriert, warum „The Beast in me“ trotzdem lesenswert ist, vor allem dann, wenn man die Originalausgabe verpasst hat: Doblers Zugriff auf Johnny Cash ist persönlich eingefärbt, aber auch von echter Leidenschaft geprägt. Er bleibt oft grob, was biografische Daten angeht, und konzentriert sich darauf, den „Man in Black“ so lebendig einzufangen wie möglich. Doblers Cash ist ein Rebell, ein Mann voller Widersprüche, der nie wirklich zur Ruhe gekommen ist. Nebenbei ist „The Beast in me“ eine Huldigung des Country, spezifisch des Outlaw-Country von Cash und Konsorten, und überträgt Doblers Begeisterung dafür auf die Lesenden – auch wenn die mit dem Genre eigentlich nur wenig anfangen können. Ein Nebeneffekt, der Johnny Cash selbst sicher gefreut hätte.
Heyne Hardcore, 2021, 432 S., 15 Euro
4. Ulf Erdmann Ziegler: Eine andere Epoche
Wie kurz das politische Gedächtnis ist: Gerade einmal zehn Jahre ist es her, dass der NSU sich zu seinen rassistischen Morden bekannt und die deutschen Sicherheitsbehörden in eine tiefe Krise gestürzt hat. Doch fühlt es sich nicht viel länger an? Ulf Erdmann Zieglers „Eine andere Epoche“ spielt im Winter nach dem Skandal, erzählt wird aus der Sicht des Bundestags-Büroleiters Wegman Frost. Während Zieglers Protagonist fiktiv ist, spickt er den Rest des Romans mit Verweisen auf die Realität: Seine Figuren werden nicht nur mit dem NSU, sondern auch mit der Bestechlichkeitsaffäre um den Bundespräsidenten Christian Wulff konfrontiert, Politiker wie Christian Rösler oder Sebastian Edathy treten als verfremdete Versionen ihrer selbst auf. Doch Ziegler liefert weitaus mehr als eine Fiktionalisierung wahrer Ereignisse, indem er seine Hauptfigur Frost mit einem reichen Innenleben, komplexen Beziehungen und einer nur halb erinnerten Kindheit ausstattet. Der Roman gerät damit unerwartet persönlich und bewegend. Den Themenkomplex rechter Terror, den Ausgangspunkt des Buchs, berührt Ziegler dafür nur sehr indirekt – sodass sich die Frage stellt, ob es den historischen Rahmen überhaupt gebraucht hätte.
Suhrkamp, 2021, 256 S., 24 Euro
– Top 3 –
3. Kaspar Colling Nielsen: Mount Copenhagen
Was, wenn die dänische Regierung vor über 200 Jahren beschlossen hätte, in der Nähe von Kopenhagen einen künstlichen, kilometerhohen Berg aufzuschütten? In Kaspar Colling Nielsens „Mount Copenhagen“ ist das Wunder schon vollbracht. In 17 Kurzgeschichten erkundet der Autor, welche Auswirkungen ein solches Projekt auf unsere Realität haben könnte. Manche Erzählungen haben dabei direkt mit dem Berg zu tun, andere spielen nur in seiner Sichtweite. Viele haben fantastische Untertöne und erinnern wahlweise an Calvino, Murakami oder Setz: Ein Arzt lässt sich zum Vogelmenschen umoperieren und inspiriert damit Millionen, es ihm gleichzutun; ein Marathonläufer hat eine Vision von Gott; ein Astronom findet etwas Unglaubliches über unser Universum heraus. Colling Nielsen steckt voller Erfindungsreichtum und Spaß am Erzählen, doch seine Sammlung ist zugleich durchwoben von Zynismus und groteskem Horror, der sich nicht nur in den immer wiederkehrenden freiwilligen und unfreiwilligen Verstümmelungen äußert. Dann wieder überrascht der Autor mit seiner Einfühlsamkeit. Ein kurzes, aber ungemein dichtes Buch.
Heyne Hardcore, 2021, 208 S., 20 Euro
Aus d. Dän. v. Günther Frauenlob
2. Dennis Cooper: Die Schlampen
Hauptfigur von Dennis Coopers „Die Schlampen“ ist ein 18-jähriger Escort namens Brad. Da sich der Roman aber aus Postings von einer Website zusammensetzt, auf der Stricher von ihren Kunden bewertet werden, kommt der Protagonist gar nicht selbst zu Wort, und es wird sehr schnell klar, dass sowohl der Name als auch besonders das nach oben korrigierte Alter in Zweifel zu ziehen sind. Als einigermaßen gesicherte Informationen können eigentlich nur ein beschnittener Schwanz von etwa 15 cm Länge, das jungenhafte Aussehen eines 14-Jährigen und die Tatsache durchgehen, dass jener Brad ein Raucher und ein Bottom ist. Hatte Brad einen Sugardaddy namens Brian? Und wollte Brad als Hauptdarsteller eines SM-Pornos sterben, weil er wahlweise einen Hirntumor, ein massives Drogenproblem oder eine traumatische Kindheit gehabt hat? Was als komischer Schlagabtausch zwischen enttäuschten und zufriedenen Freiern beginnt, gleitet sehr schnell ab in extreme Gewaltfantasien und detailliert beschriebene Snuff-Videos. User geben sich als Täter aus, Posts widersprechen sich und ein halbherzig agierender Webmaster bemüht sich um einen Faktencheck … Während die Leser:innen versuchen, die Geschichte von Brad und Brian zu entwirren, werden sie von Dennis Cooper zugleich in ein erkenntnisreiches Gedankenspiel über Wahrheit, Identität und Abhängigkeit gezogen – und wie derzeit kein anderer Autor gelingt es ihm, trotz größtmöglicher Kälte und Gewalt auch das vermeintlich zarte Wesen der Liebe fühlbar zu machen.
Luftschacht, 2021, 252 S., 24 Euro
Aus d. Engl. v. Raimund Varga
1. Marlen Pelny: Liebe / Liebe
Marlen Pelny weiß eigentlich sehr genau, wie sie ihre Texte unter die Leute bringt: Sie vertont sie mit der Band Zuckerklub, und eine Stadt wie Leipzig hat sie auch schon einfach mal mit ihrer Lyrik zuplakatiert. Doch mit einem Roman funktionieren Guerilla-Aktionen natürlich nicht, und so musste die in Berlin lebende Autorin die Erfahrung machen, dass bestimmte Themen nicht nur gesellschaftlich, sondern auch in der Literaturwelt verdrängt werden: 5 Jahre lang hat sie erfolglos versucht, einen Verlag für „Liebe / Liebe“ zu finden. Schließlich hat sich der Haymon-Verlag mit Sitz in Wien und Innsbruck ihres Debüts angenommen, und der versucht auch nicht, die Themen hinter einem schwurbeligen, vermeintlich verkaufsfördernden Klappentext zu verstecken, sondern versieht den Roman sehr sensibel mit einer Triggerwarnung: „Dieses Buch konfrontiert dich mit sexueller Gewalt, Kindesmissbrauch und Selbstverletzung.“
Pelnys Ich-Erzählerin Sascha wächst im zehnten Stock eines Hochhauses auf: Die Mutter ignoriert sie und starrt stundenlang apathisch aus dem Fenster, während der Vater ihr zu viel Aufmerksamkeit entgegen bringt. Seine Gutenachtküsse fühlen sich nicht richtig an, doch für das, was da passiert, fehlen ihr die Worte, denn zu Anfang des Romans ist Sascha noch ein kleines Mädchen. Als Teenager kann sie sich ein paar Jahre später nicht nur aus dieser Sprachlosigkeit befreien: Inzwischen lebt sie bei ihrem Großvater, wo sie zum ersten Mal Geborgenheit erfährt und sich in ihre beste Freundin verliebt. Als sie die Nachricht erhält, dass ihre an Krebs erkrankte Mutter im Sterben liegt, entschließt sich Sascha zur Rückkehr in ihr Elternhaus, und die Verdrängung schlägt in Wut um … Marlen Pelny vermeidet Voyeurismus und den Ton der Betroffenheit. Ohne zu verharmlosen, bettet sie die tabuisierten Themen in eine sprachlich kraftvolle Coming-of-Age-Geschichte, die sie mit spannenden Wendungen und mitunter gar mit Humor erzählt. Sie holt die Gewalt dahin, wo sie leider auch allzu oft passiert: ganz nah bei uns.
Haymon, 2021, 216 S., 19,90 Euro