Red Hot Chili Peppers: Stadium Arcadium
Nach „Stadium Arcadium“ verließ John Frusciante die Red Hot Chili Peppers. Zu seiner Rückkehr werfen wir einen Blick auf sein letztes Album mit der Band.
Die Re-Re-Union
Am 15. Dezember verkündeten die Red Hot Chili Peppers das Ende der Zusammenarbeit mit Gitarrist Josh Klinghoffer, mit dem sie Welttourneen absolviert und die Alben „I’m with you“ (2011) und „The Getaway“ (2016) herausgebracht haben. Ersetzt wird Klinghoffer von einem Freund, der in der Vergangenheit bereits zweimal bei den Kaliforniern gespielt hat: John Frusciante. Über die Gründe der Trennung ließe sich nun stundenlang spekulieren. Die Rückkehr des vielseitigsten Gitarristen seiner Generation schürt aber nicht nur die Vorfreude auf das bereits bestätigte, anstehende Album – sie erweckt auch Erinnerungen an die härtesten, funkigsten und melodisch schönsten Rocksongs der 90er- und 00er-Jahre wieder zum Leben.
Aus den 90ern sind da vor allem die Crossover-Hymne „Give it away“, die ikonische Heroin-Ballade „Under the Bridge“ und Frusciantes Less-is-more-Signature-Song „Californication“ zu nennen. Die 2000er? Kein Problem: „Can’t stop“, „By the Way“ und „Venice Queen“. Dann folgte das letzte Album der Chili-Peppers vor Frusciantes zweitem Ausstieg 2008: das 2006 erschienene Doppelalbum „Stadium Arcadium“. Aufgesplittet in die Seiten „Jupiter“ und „Mars“ zeugen satte 28 Songs von einer musikalischen Bandbreite, die von Funk über Punk bis Hardrock alles abdeckt. Auf etwas über 120 Minuten beweisen Sänger Anthony Kiedis, Bassist Michael „Flea“ Balzary, Drummer Chad Smith und Gitarrenmessias Frusciante, zu wie vielen Genreübertretungen sie in der Lage sind – und, dass sie noch viel mehr können, als sich Socken über die Schniedel zu ziehen und abzufreaken.
Jupiter: Melodischer Schönklang, ass shaking Grooves und jede Menge Hits
Das Rennen um den Song mit dem größten Hitpotenzial startet schon die erste Single-Auskopplung „Dani California“. Den Rhythmus des treibenden Drei-Akkorde-Riffs der Strophen entnahm Frusciante einem Beat aus dem Wu-Tang-Debüt „Enter the 36 Chambers“, das er während der Aufnahmen rauf und runter gehört hat. Das Herzstück des Songs ist jedoch das Gitarrensolo: Auch wenn Frusciante alle anderen Solos des Albums laut eigener Aussage improvisierte – und das ist schon unglaublich genug – hat er für „Dani California“ eine Ausnahme gemacht. Das Ergebnis ist ein aufjaulendes Biest in Hendrix-Manier, das verschiedene Fill-ins zusammenhält und zum Schluss schlichtweg explodiert. In den Lyrics erzählt Kiedis indes die Reise der Figur Dani weiter, die bereits als „Teenage bride with a baby inside“ aus dem Song „Californication“ bekannt ist.
Alte Themen in neuem Gewand
Der Text im folgenden „Snow (Hey oh)“ thematisiert die wiederholt fehlgeschlagene Versuche von Anthony Kiedis, sein Leben gefälligst auf die Reihe zu bekommen und dabei eigene Glaubensgrundsätze zu hinterfragen. Die Zukunftsängste in der Zeile „When will I know that I really can’t go, to the well once more, time to decide on?“ sind, zugegeben, Themen, die man von Kiedis schon kennt – die durch das neue musikalische Gewand jedoch eine ganz andere Schlagkraft erhalten. Flea und Chad Smith besinnen sich auf vermeintlich simple Läufe und Rhythmen, um dem dichten und fast unspielbar schnellen Gitarrenlick in den Strophen Platz zu machen. Ein besonnener Fortschritt im Songwriting der Chili Peppers, der so auf den ersten Platten nur punktuell erahnbar war. Auf „Stadium Arcadium“ ist er da – und er ist überall.
Auch für Fans, die gelegentlich behaupten, Chad Smith sei ein unterschätzter Drummer, ist der Titelsong „Stadium Arcadium“ Wasser auf den Mühlen. Als einer von wenigen Songs auf dem gleichnamigen Album wurde diese textliche Ode an die Kraft der Musik am Schlagzeug des Trommlers geboren. Dass er nach all den Jahren immer noch in der Lage ist, perfekt-funkige in-pocket-Tracks zu fabrizieren, beweisen schon auf der ersten Seite die Tracks „Warlocks“ und „Hump de Bump“. Die Videoregie zu letzterer Abtanz-Nummer führte mit Comedian Chris Rock ein Die-hard-Fan der Red Hot Chili Peppers, der es verstand, die Essenz der Band in Szene zu setzen: völliges Versinken im ass-shaking-Groove, den auf diesem Track vor allem die Bläser unterstützen. Die Verbeugung vor Maceo Parker und Fred Wesley in den Refrains kommt also nicht von ungefähr.
Der Bass muss laufen
Bei „Charlie“ könnte man sich jetzt beschweren, dass Kiedis’ Texte wieder nur von Frauen, Drogen und Musik handeln, doch hinter den Lyrics steckt weit mehr. Der Frontmann selbst erklärt: „Die ursprüngliche Idee für ,Charlie‘ war ein Song über Vorstellungskraft und das Verlangen, das aus ihr entstehen kann. Ich wollte dem aber so viel Platz geben, dass es sich auf alle möglichen Bereiche übertragen lässt und nicht auf wenige Sachen beschränkt.“ Der Funk auf einem der besten Instrumentals des Albums ist Flea zu verdanken, der mit synkopierten Läufen die Strophen serviert. Ähnliches leistet er auch auf „She’s only 18“. Je öfter man diesen Track hört, desto klarer wird, um was für eine durchdringende und leidenschaftliche Spielweise Flea den Rock bereichert hat. Auch, wenn er von sich selbst behauptet, eher für B-Seiten-Material gemacht zu sein.
Melancholische Höhepunkte
Insgesamt finden sich auf der „Jupiter“-Seite wohl die melodisch schönsten Stücke. Sowohl „Wet Sand“ als auch Fleas persönlicher Favorit „Slow Cheetah“ bieten die perfekte, ruhige Abwechslung etwa zum ungestümen „Especially in Michigan“. „Wet Sand“ demonstriert dabei einmal mehr die wichtige Rolle, die Produzent Rick Rubin bereits auf vergangenen Red-Hot-Chili-Peppers-Alben hatte und auch jetzt wieder einnimmt: Er ordnet die Fülle an Ideen so, dass verschiedene Parts eines Songs perfekt aufeinander abgestimmt sind. Frusciantes melancholische Akkordfolgen fließen wie ein geradliniger Strom, der seine Kraft aus der Unsterstützung des minimalistischen Bass’ schöpft. Die Übergänge sind so leichtfüßig und elegant, wie die Lyrics schwer sind: „My shadow side, so amplified, keeps coming back dissatisfied“ sind zwar Kiedis’ Texte, doch der Titel und die Melodie stammen einmal mehr aus der Feder Frusciantes.
Wer sich selbst durch das abschließende „Hey“ (Arbeitstitel: „Light and jazzy“) nicht überzeugen lässt, muss hinterm Jupiter leben. Und auch, wenn einem bereits auf der ersten Seite die Superlative ausgehen: Es gibt da ja immer noch eine zweite.
Mars: Blick zurück nach vorn
Der Kampf gegen innere Dämonen in „Desecration Smile“ hat mit seinen intelligenten Akkordfolgen schon einen gewissen Studiogast namens Paul McCartney begeistert. Das alleine würde schon ausreichen, um den Song zu würdigen, doch lohnt sich natürlich auch ein Blick auf die Musik an sich. Bereits vor der Veröffentlichung des Albums haben die Red Hot Chili Peppers den Song live gespielt, allerdings noch mit einem anderen Chorus, der laut Kiedis „not pretty good“ war. Der Meinung war auch Rick Rubin und entschied sich für einen Wechsel von der Moll-lastigen Strophe hin zu einer Dur-Folge im Refrain – gute Entscheidung. Doch selbst der schönste Gitarrentrack würde etwas mager aussehen, wenn er nicht von den Drums gestützt werden würde. Ähnlich wie in „Hey“ gelingt es Chad Smith, den ausgetüftelten Melodieparts Platz zu lassen. Durch wenige, dafür aber raffiniert platzierte Akzente untermalt er die Tracks tanzbar und rockig, gerade so, wie sie es brauchen.
Reminiszenz an alte Klassiker
Mit „Tell me Baby“, „Storm in a Teacup“ und „Turn it again“ bietet „Mars“ gleich drei Funknummern. Aufgrund von Fleas slapping Bass erinnern sie an „Blood Sugar Sex Magik“ und huldigen der Inspiration, die die Red Hot Chili Peppers aus Funkadelic und James Brown ziehen. Doch auch der große Ruhm, den die Red Hot Chili Peppers mit ihrem funkinfizierten Crossover-Rock erreicht haben, hat seine Kehrseiten. Diese verarbeitet Kiedis in „Tell me Baby“: „Es geht um die Einsamkeit eines Mädchens, das Ruhm sucht, den es eigentlich nicht braucht. Ein bisschen wie der Zauberer von Oz in 2006.“
Nach all den energiegeladenen Songs bedarf es aber auch der Möglichkeiten, runterzukommen. „Hard to concentrate“ sorgt genau dafür: Flea schrieb die Bassline mit dem Ziel, Frusciantes Two-Note-Technik zu adaptieren. Als er am Thanksgivingabend die Melodie schließlich seinem Schwager vorgespielt hat, antwortete der nur: „Du solltest doch die Kartoffeln rausholen!“.
Von wegen Soft
Wem der Hard-Rock-Refrain bei „C’mon Girl“ nicht reicht, den beschenkt „Readymade“ mit einem der härtesten Riffs der Peppers-Historie. Frusciantes enger Freund Johnny Ramone verstarb kurz vor den Aufnahmen zu „Stadium Arcadium“. Die Energie seiner Musik war die Vorlage für das schnelle, verzerrte Riff der Strophen, das einem bandinternen Face-off entstammt. Wenn das minimalistische „Californication“ eine Mitspiel-Platte für Gitarrenanfänger ist, so ist „Stadium Arcadium“ dank „Snow“ und „Readymade“ eine Vorlage, an der sich Fortgeschrittene die Finger blutig spielen können. „So don’t tell us we’re fucking going soft on this album“, meint Chad.
Der fünfte im Bunde
Auch wenn „She looks to me“ wieder ruhigere Klänge anschlägt, ist das Liebeslied eine außergewöhnlich dicht produzierte Ballade. Nach dem Vorbild von Brian Eno entstand eine musikalische Landschaft, die im hypnotischen Outro an die Solowerke John Frusciantes erinnert. Des Weiteren zeigen „21st Century“ und „Make you feel better“, wie wichtig auch die nun reifer klingende Abmischung ist. Sie hievt selbst vermeintlich durchschnittliches Material einige Stufen nach oben und würdigt damit die detailversessene Arbeit Rick Rubins.
Runde Dramaturgie und herausragende Vielfalt
„We believe“ mag in seiner spirituellen Botschaft zwar nicht so durchdringend sein wie „Strip my Mind“ und das selbstzerstörerische „Torture me“, dramaturgisch jedoch passt es perfekt als Vorbereitung für die abschließenden „Turn it again“ und „Death of a Martian“. An dieser Stelle könnte man die Preise aufzählen, die die Red Hot Chili Peppers für „Stadium Arcadium“ erhalten haben. Doch kein Grammy erklärt das emotional bereichernde Potenzial, dass das beste Doppelalbum der Nullerjahre beim Hören bietet.
Es mag nicht jeder Song für jeden gemacht sein: Einige mögen zum Beispiel rummosern, dass „So much I“, „If“ und „Especially in Michigan“ lediglich Durchschnitt sind. Vielleicht stimmt das sogar. Dennoch ist der Durchschnitt auf „Stadium Arcadium“ immer noch vielseitiger als so manche Band mit ihrer gesamten Karriere. Und durch die Bandbreite an Genres findet dennoch jede*r irgendwo auf diesem Album mindestens einen Song, der sich einprägt.
Die Vielzahl an technischen Spielarten und deren meisterhafte Ausführung sorgen für eine durchgehend hohe Qualität, eine Rarität auf solcher Lauflänge. Ob die Rückkehr Frusciantes gleichbedeutend mit einem ähnlich genialen nächsten Album ist, ist müßige Spekulation. Bis dahin reicht es auch vollkommen aus, „Stadium Arcadium“ nochmal zu hören. Wem sich dann immer noch nicht erschließt, was es mit dieser Musik auf sich hat, dem sei gesagt: „If you have to ask, you will never know“.
Lennard Kühl