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Die besten Bücher 2022: Empfehlungen für den April

Buchcover auf einer Jogginghose: Die besten Bücher im April 2022

Was die düstere Gegenwart erhellt: Die besten Bücher im April 2022 mit Lucy Fricke, Drangsal und Nino Haratischwili

Mit ihrem neuen Roman macht Nino Haratischwili diese düstere Zeit ein wenig erträglicher: In „Das mangelnde Licht“ schickt sie vier Freundinnen durch die Hölle – und schafft es trotzdem, Wärme und Hoffnung durchscheinen zu lassen. Der Roman ist nicht nur ein Buch über vier Frauen, sondern auch über Haratischwili Heimatland Georgien, das sie mit den Augen der Liebe betrachtet. Schafft Nino Haratischwili es auch auf die Spitzenposition unserer Liste der besten Bücher im April 2022? Konkurrenz bekommt sie von Garth Greenwell, der nach „Was zu dir gehört“ mit einer atemberaubenden Textsammlung ganz sicher auch zum Favoritenkreis zählt. Zudem veröffentlicht Lucy Fricke mit „Die Diplomatin“ den langersehnten Nachfolger ihres Bestsellers „Töchter“: Im Zentrum dieses politischen Romans steht Friederike Andermann, die als deutsche Botschafterin in Istanbul arbeitet. Dort bekommt sie es mit inhaftierten Künstler:innen zu tun – und dann lässt sie sich auch noch auf eine Affäre mit einem deutschen Journalisten ein, der von der türkischen Justiz gesucht wird. Oder erstürmt der Musiker Max Gruber alias Drangsal mit seiner ersten literarischen Veröffentlichung gleich mal unsere Liste der besten Bücher im April 2022? Wenn er in den Texten von „Doch“ vom alltäglichen Wahnwitz, dem Erwachsenwerden, einem Anderssein und natürlich von der Liebe zur Musik erzählt, sitzt jedes Wort. Und schließlich nehmen auch Jens Eisel, Daniel Schulz, die kanadische Autorin Claire Thomas und Kim Hey-jin aus Korea die vorderen Plätze unserer Liste mit den besten Büchern im April 2022 in den Blick.

Die besten Bücher im April 2022

9. Jens Eisel: Cooper

Die besten Bücher im April 2022: „Cooper“ von Jens EiselDas FBI hat die Akte nach 45 Jahren offiziell geschlossen, also muss Special Agent Jens Eisel ran. In einem semidokumentarischen Roman durchleuchtet der in Hamburg lebende Autor eine nie aufgeklärte Flugzeugentführung aus dem Jahr 1971 aus vier Perspektiven: Neben dem Piloten, einer Flugbegleiterin und dem vormals mit dem Fall betrauten FBI-Mitarbeiter, der immer wieder mit Interviewsequenzen zwischengeschaltet wird, kommt auch der Entführer selbst zu Wort. Der unter dem Pseudonym Dan Cooper zum Volkshelden stilisierte Täter besteigt die Maschine nach Seattle mit einer selbstgebastelten Bombe in einem Aktenkoffer und verlässt sie schließlich samt Lösegeld per Fallschirmsprung. Tatsächlich bringt der ornamentfreie, ungemein abgeklärte und doch so assoziationsreiche Eisel-Sound neue Erkenntnisse. Nur wer gerade mit dem Rauchen aufhören will, meidet diese neue Akte besser.

Piper, 2022, 224 S., 22 Euro

8. Daniel Schulz: Wir waren wie Brüder

Buchcover „Wir waren wie Brüder“ von Daniel SchulzErst im Februar hat Rapper Hendrik Bolz, besser bekannt als Testo, in „Nullerjahre“ sein Aufwachsen im Nachwende-Stralsund geschildert. Darin schreibt er: „Es ist 2021, und ostdeutsche Geschichten sind für mich das Spannendste auf der Welt.“ Er kann sich freuen, denn hier kommt schon die nächste: Daniel Schulz, neun Jahre älter als Bolz und taz-Ressortleiter, hat seine Jugend in Brandenburg in einem autobiografischen Roman verarbeitet. Auch Schulz hat den wirtschaftlichen Verfall erlebt, die Überforderung der Erwachsenen, als die DDR auf einmal weg ist. Und die tief verwurzelten rechtsextremen Strukturen, die für einen Jugendlichen manchmal wie die einzige Perspektive wirken. Anders als Bolz lässt Schulz dabei auch Raum für zartere Gefühle, humorvolle Momente, eine Liebesgeschichte. Doch auch sein Buch ist eine Anklage – an alle, die zugelassen haben, wie der Osten vergessen wurde.

Hanser Berlin, 2022, 288 S., 23 Euro

7. Claire Thomas: Die Feuer

Buchcover „Die Feuer“ von Claire Thomas„Ich bin auch eine öko-feministische Aktivistin, wollte Ivy dem Generalintendanten sagen. Ich sorge mich um die Umwelt und alle Lebewesen. Ist heutzutage nicht jeder denkende Mensch ein Öko-Feminist?“ Während in den Bergen die Buschfeuer wüten, wird am Theater in Melbourne das Stück „Glückliche Tage“ von Samuel Beckett aufgeführt. In ihrem Roman „Die Feuer“ protokolliert Claire Thomas die Gedanken dreier ganz unterschiedlicher Besucherinnen der Inszenierung: Margot ist Literaturprofessorin, ihre ehemalige Studentin Ivy ist Kunstmäzenin, und die Schauspielschülerin Summer arbeitet als Platzanweiserin.

Hanser, 2022, 256 S., 23 Euro

Aus d. Engl. v. Eva Bonné

6. Kim Hey-jin: Die Tochter

Die besten Bücher im April 2022: „Die Tochter“ von Kim Hey-jinWir erfahren den Namen der Mutter nicht, und auch nicht den, den sie ihrer Tochter gegeben hat. Das allein macht deutlich: Der Konflikt, den Kim Hye-jin in „Die Tochter“ beschreibt, ist stellvertretend zu lesen für eine ganze Gesellschaft. Obwohl die Tochter in den Dreißigern ist und an der Uni arbeitet, kann sie sich ihre Wohnung nicht mehr leisten. Sie zieht wieder bei der Mutter ein, doch ein tiefer Abgrund trennt die beiden Frauen: Die Mutter ist extrem konservativ, ihre Tochter aber schert sich nicht um Konvention, hat weder Mann noch Kinder – und liebt eine Frau. Ihre sexuelle Orientierung könnte sie ihren Job kosten, weshalb sie demonstrieren geht und in Straßenkämpfe mit der Polizei gerät. Kim erzählt diese Geschichte aus der Sicht der Mutter, deren Welt so freudlos und eng ist, dass beim Lesen das Atmen schwerfällt. Nach und nach jedoch beginnen Mitgefühl und Menschlichkeit, ihren starren Horizont zu erweitern, und das nicht nur in Bezug auf ihre Tochter. Dabei geht es Kim weniger um ein Happy End als darum, zu zeigen, dass auch ein winziger Schritt in die richtige Richtung alle Mühe wert ist.

Hanser Berlin, 2022, 176 S., 20 Euro

Aus d. Korean. v. Ki-Hyang Lee

5. Jonathan Lee: Der große Fehler

Buchcover „Der große Fehler“ von Jonathan LeeBei einem Spaziergang im Central Park stößt der in London aufgewachsene Jonathan Lee zufällig auf eine Marmorbank, in die ein Name und eine Widmung eingraviert sind. Etliche Wörter sind von Taubenscheiße verdeckt, und doch kann Lee die Aufschrift entziffern: „Zu Ehren von Andrew Haswell Green / Dem Schöpfergeist des Central Park in seinen frühen Jahren / Vater von Greater New York“. Er beginnt zu recherchieren und findet heraus, dass dem Anwalt und Stadtplaner nicht nur der Central Park, die New York Public Library und das Metropolitan Museum of Art zu verdanken sind, sondern er auch maßgeblich an dem Zusammenschluss von Manhattan und Brooklyn zu einer einzigen Stadt beteiligt gewesen ist. Zudem sind die Umstände seines Todes mysteriös: Im Alter von 83 Jahren wird Green am 13. November 1903 vor seinem Haus erschossen. Der Mörder kann festgenommen werden, doch bleiben die Motive für dessen Tat lange Zeit unklar. Jonathan Lee hat intensive Nachforschungen angestellt, in der Historical Society Library durfte er die unveröffentlichten Tagebücher und Briefe von Andrew Haswell Green lesen – und acht Jahre nach seinem Spaziergang war der Roman fertig. In „Der große Fehler“ hält er sich an die historischen Tatsachen, und wenn er Nebenfiguren wie etwa Inspektor McClusky oder Greens Haushälterin Mrs. Bray fiktional ausgestaltet, so entspringen diese Charaktere zumindest den Fußnoten offizieller Dokumente. Doch wenn Lee immer wieder mit Zeitsprüngen arbeitet, aus wechselnden Perspektiven erzählt und die einzelnen Kapitel mit den Namen der verschiedenen Eingänge des Central Park überschreibt, ist es gar nicht so sehr der Kriminalfall, der seinen Roman so ungemein spannend macht. Mit detaillierten Beschreibungen und sinnlicher Sprache macht er das New York jener Zeit fühlbar, und vor allem zeichnet er ein tiefenscharfes Psychogramm seines tragischen Helden.

Diogenes, 2022, 368 S., 25 Euro

Aus d. Engl. v. Werner Löcher-Lawrence

4. Drangsal: Doch

Buchcover „Doch“ von DrangsalAls Max Gruber im Jahr 2016 mit „Harieschaim“ sein erstes Album als Drangsal veröffentlicht, ist es die altehrwürdige Spex, die ihn so ungemein treffend zum „neuen Zuchtmeister deutscher Popmusik“ tauft. Sechs Jahre und zwei weitere Platten später muss dieses Prädikat angepasst bzw. erweitert werden, da der 28-Jährige nun auch sein erstes Buch vorlegt. In „Doch“ bündelt Gruber autobiografische Miniaturen, Kurzgeschichten und Gedichte, in denen er zwischen Herxheim, seinem Heimatkaff in der pfälzischen Provinz, und surrealen Traumwelten pendelt. Wenn er vom alltäglichen Wahnwitz, dem Erwachsenwerden, einem Anderssein und natürlich von seiner Liebe zur Musik erzählt, sitzt jedes Wort: In Texten wie „Lachen“ und „Knight Rider oder Himbeer-Toni“ treibt er die Selbstentblößung zum Exzess – und spielt natürlich zugleich mit Übertreibung und Verfremdung. Bleibt nur ein nicht aufzulösendes Dilemma: Locken wir ihn von der Musik weg, weil wir jetzt unbedingt auch einen Roman von Drangsal wollen? Wir lassen ihn ganz einfach selbst entscheiden, und diese Zuschreibung hat er sich ja so oder so schon mit „Doch“ verdient: Max Gruber ist jetzt auch der neue Zuchtmeister deutscher Literatur.

Claassen, 2022, 176 S., 20 Euro

Die besten Bücher im April 2022

TOP 3

3. Lucy Fricke: Die Diplomatin

Buchcover „Die Diplomatin“ von Lucy FrickeMit ihrem letzten Roman gelang Lucy Fricke vor fünf Jahren endlich der so verdiente große Erfolg, und „Töchter“ wurde auch sogleich mit Birgit Minichmayr und Alexandra Maria Lara fürs Kino verfilmt. Wenn die 48-Jährige nun nachlegt, scheint ihre fünfte Veröffentlichung ganz weit weg von der gefeierten Roadnovel über zwei Frauen und ihre Väter: „Die Diplomatin“ ist ein politischer Roman, dessen Aktualität derzeit leider täglich von den Nachrichten bestätigt wird. Im Zentrum steht Friederike Andermann, die als deutsche Botschafterin in Istanbul arbeitet. Hier hat sie es mit inhaftierten Künstler:innen zu tun – und dann lässt sie sich auch noch auf eine Affäre mit einem deutschen Journalisten ein, der von der türkischen Justiz gesucht wird. Doch ist es gerade diese, von allen nur Fred genannte Protagonistin, die eine Verbindungslinie zu Frickes bisherigem Œuvre zieht: Sie hat diesen für die Autorin so typischen trockenen Humor, der hier die staatstragenden Rituale und ihre Verlogenheit, das diplomatische Geschwafel und den Zynismus der Kolleg:innen offenlegt. „Ich stehe da nur rum und bin Deutschland“, sagt Fred etwa, wenn wieder mal irgendein Empfang ansteht.

Claassen, 2022, 256 S. 22 Euro

2. Garth Greenwell: Reinheit

Die besten Bücher im April 2022: „Reinheit“ von Garth Greenwell„Wir können uns nie sicher sein, was wir wirklich wollen. Wir können uns nie der Authentizität unseres Begehrens sicher sein, denke ich, der Reinheit in Bezug auf uns selbst.“ Garth Greenwell schließt an seinen Debütroman „Was zu dir gehört“ an, indem er seinen namenlosen Ich-Erzähler durch Sofia streifen lässt. Bald wird der US-Amerikaner seine Lehrtätigkeit beenden und das Land verlassen, und noch einmal reflektiert er die Begegnungen, die ihn in dieser Zeit geprägt haben: Auf ein Gespräch mit einem seiner Schüler über das so absolute, aber unerwiderte erste Begehren folgt ein SM-Date, dessen Grenzgang zwischen Lust und Grausamkeit er mit pornografischer Genauigkeit seziert. Wenn Greenwell die Liebe des Protagonisten und seine Beziehung zu R. mit Toilettensex kontrastiert, geht es ihm immer auch um die Lebensumstände der LGTBQIA*-Community in Bulgarien. Doch vor allem sind die Erzählungen von „Reinheit“ eine Kartografie des Begehrens, in der Greenwell so zart und zugleich so kompromisslos und grausam über Sex schreibt.

Claassen, 2022, 302 S., 23 Euro

Aus d. Engl. v. Daniel Schreiber

1. Nino Haratischwili: Das mangelnde Licht

Buchcover „Das mangelnde Licht“ von Nino HaratischwiliEine Ausstellung in Brüssel bringt drei Freundinnen wieder zusammen: Keto, die Erzählerin, die obsessive Chronistin der Vergangenheit; die romantische Nene, die trotz aller Traumata unverwüstlich geblieben ist; und die ernsthafte Ira, die bis heute unter ihrer unerwiderten Liebe zu Nene leidet. Gemeinsam sind sie im Tbilissi der 80er und 90er aufgewachsen und haben den Fall der Sowjetunion, Sezessionskriege, Hungersnöte und Bandenkriminalität erlebt. Ihre Heldin während dieser Zeiten war Dina, die selbstbewusste und furchtlose Anführerin – die am Ende den Kampf verloren hat. Es sind ihre Fotografien, die hier ausgestellt sind, und die Ketos Erinnerungen wecken. Sie hangelt sich von Bild zu Bild und denkt an früher: die idyllische Kindheit, die turbulente Jugend, das schmerzhafte Erwachsenwerden. Nino Haratischwilis „Das mangelnde Licht“ beginnt als altmodischer Schmöker: geduldig, detailliert und so unterhaltsam und bunt, dass das Lesen wie von allein passiert. Ihre Beschreibungen der Kindheit der vier Freundinnen lassen sie und ihre Umgebung zu fast greifbarem Leben erwachen. Doch diese gemütlichen Anfänge lassen die endlose Spirale aus Leid und Gewalt, die Keto, Dina, Nene und Ira nur allzu bald erfasst, umso intensiver wirken: Wenn Nene zwangsverheiratet wird und ihr Mann ihren Liebhaber ermordet, wenn Dina als Kriegsfotografin ihr Leben riskiert, wenn das Heroin ihre Welt zu erobern beginnt, wenn Keto sich täglich die Oberschenkel ritzt – wir fühlen mit, weil wir sie zu kennen meinen, seit sie Kinder waren.

Frankfurter Verlagsanstalt, 2022, 832 S., 34 Euro

 

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