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„Lord Jim“ von Joseph Conrad: Überflüssig, aber nötig

Buchcover „Lord Jim“ von Joseph Conrad

Wenn Joseph Conrad mit „Lord Jim“ den Kolonialismus des 19. Jahrhunderts durchleuchtet, braucht es mehr als eine Wahrheit, eine Lesart, eine Stimme und Ebene.

Eine Neuübersetzung von Joseph Conrads berühmtesten Roman „Lord Jim“, nur sechs Jahre nach der letzten Neuübersetzung? Die Geschichte des Seemanns Jim, der moralisch versagt, als er ein havarierendes Schiff samt Passagieren verlässt, der Anführer einer nativen Gruppe in der Südsee wird und schließlich drastische Konsequenzen für sein feiges Handeln zieht, gibt es schon in mehreren Übersetzungen – wozu also diese weitere?

Zuerst kriegt man das Gefühl, dass Übersetzer Michael Walter hier nur teils die Syntax umstellt, einige Wörter durch deutsche Synonyme ersetzt, die moderner klingen, und die Seemannsbegriffe durch nautische Fachtermini. Doch es braucht eben nur unauffällige Änderungen – keine Übersetzung ist in dem Sinne besser als eine andere, ältere; sie alle haben den Originaltext als Grundlage und setzen andere Schwerpunkte, stellen andere Dinge heraus, oder aber dieselben, aber drücken sie anders aus. Sie animieren uns, Texte (wieder) zu entdecken, die sonst vielleicht in Vergessenheit geraten würden.

Die erzählerische Diversität von Joseph Conrads „Lord Jim“ muss regelmäßig neu erforscht werden 

Unter dem Aspekt ist Walters Neuübersetzung wichtig. Wichtig, weil sie uns zum Lesen eines Romans von so komplexer, erfüllender Schönheit wie „Lord Jim“ verleitet – den wir dann vielleicht sogar in weiteren vorliegenden Übersetzungen lesen, weil wir wissen wollen, was er alles für Schattierungen und Schichten besitzt. Denn wie immer, wenn Conrad in das „Herz der Finsternis“ des Kolonialismus des 19. Jahrhunderts eintaucht, gibt es mehr als eine Wahrheit, eine Lesart, eine Stimme und Ebene. Es ist die erzählerische Diversität, die ein solches Buch ausmacht. Und die muss regelmäßig neu erforscht werden, vom Übersetzer und den Leser:innen.

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